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Personalisierte Medizin: Fortschritt – nur für wenige, oder doch für alle?

Personalisierte Medizin: Fortschritt – nur für wenige, oder doch für alle?

Personalisierte Medizin ist das Thema auf medizinischen Kongressen und ein Garant für volle Reihen bzw. volle virtuelle Räume. Dabei geht es zumeist um neue therapeutische Ansätze aus dem Bereich cell & gene, zu denen Zelltherapie, Gentherapie mit viralen Vektoren und RNA-Therapien zählen. 

Die beiden zugelassenen Zelltherapien, Kymriah (Novartis) und Yescarta (Kite/Gilead) sind sogenannte CAR-T Therapien (1), bei denen autologe Zellen, also patienteneigene T-Zellen entnommen werden. Im Labor werden mittels der Genschere CRISPER (2) die T-Zellen so verändert, dass sie das CAR-Oberflächenprotein bilden, das gegen die spezifischen Oberflächenproteine der Krebszelle gerichtet sind. Dadurch erfährt nach Re-infusion der „geboosteten“ T-Zellen das Immunsystem eine starke und anhaltende Immunreaktion gegen die Tumorzellen. Bei Therapien sind derzeit in ALL (akute lymphatische Leukämie) und in DLBCL (diffuses B-Zell Lymphom) zugelassen. Bislang wurden ca. 300 Patienten in Deutschland mit exzellenten Erfolgen behandelt (3).

Zur kausalen Behandlung von monogenen Erbkrankheiten sind 5 Gentherapien zugelassen, wie z.B. Luxturna (Sparks/Novartis) bei der frühkindlichen Erblindung aufgrund RPE65 Mutation, Zynteglo (Bluebird) bei beta-Thalassämie und Zolgensma (Biogen) bei der spinalen Muskelatrophie SMN1 Mutation.

In beiden Ansätzen werden pathogene Gene verändert; in der Zelltherapie findet dieser Prozess außerhalb des Körpers (ex-vivo) statt, und die „überarbeiten“ Zellen werden danach re-infundiert. In der Gentherapie wird die Korrektur des krankheitsauslösenden Genes im Körper (in-vivo) über virale Vektoren als Vehikel erreicht.

These 1:

Mit cell & gene können fantastische Ergebnisse erreicht werden, die wie biblische Wunder anmuten, wenn „Blinde wieder sehen können “. Jedoch stellen diese Therapien durch die Kostenintensivität und ihren disruptiven Charakter bezüglich Verantwortung und Business Modellen das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen.

Im Kontext von cell & gene sollten auch die RNA-Therapien Erwähnung finden. Die Idee der silencing RNA, also pathogene mRNA, die durch Mutation in der DNA entstanden ist und einen Krankheitsprozess auslöst, mit interferierender RNA (RNAi) zu deaktivieren, ist schon vor 20 Jahren von Prof Th. Tuchel, Göttingen entworfen worden. Mit der Entwicklung von organspezifischen Transportvesikelen der siRNA, sind heute Therapien wie das Onpattro, Glivaari und Oxlumo (Alnylam) verfügbar. Weitere sehr vielversprechende siRNA Therapien sind in Entwicklung.

Ebenso wird eine immer stärker personalisierte Medizin durch Gentests (DNA-Sequenzanalysen) möglich. Firmen wie 10x Diagnostics, Illumina, uvm. bieten sogar in single cells, in ihrer spatial/ räumlichen Darstellung, die Messung von tatsächlich aktiven Genen, durch Transcriptomics, an. Damit werden gerade onkologische Therapien wesentlich wirksamer. Wirkstoffe können dank der Diagnostik gezielt den Patienten verabreicht werden, deren Tumorerkrankung aufgrund von Mutationen in vitalen Abläufen wie z.B. die G12C Mutationen im KRAS (4) entstanden ist, nun kausal mit Lumakras (Amgen) behandelt werden.  Der Patient ist dankbar, kann er doch nun hohe Wirksamkeit erhoffen kann.

Auch der Einsatz von Medikamenten, die seit langem auf dem Markt sind, wie ASS können durch Diagnostik optimiert werden. So konnte gezeigt werden, dass nur bei Vorliegen des risk-allels die Wirksamkeit bei der Prophylaxe der Arteriosklerose gegeben ist, andernfalls ist die Gabe von ASS kontraproduktiv (5).

Mit der molekularen Diagnostik etablierte sich der Begriff der Präzisionsmedizin „precision medicine“ (6).  Auf dem Weg zur personalisierten Medizin ist die Präzisionsmedizin ein großer Meilenstein, der die Weichen weg von „Eine Medizin für alle“, hin zu spezifischen Therapien für definierte Untergruppen, stellt. Precision Medicine geht daher meist mit der gemeinsamen Entwicklung eines compagnion diagnostics und der spezifischen Therapie einher. So wurden in den letzten Jahren über 160 Biomarker, alleine in der Onkologie, zugelassen (7)

Der Nutzen der Diagnostik des Genom, Transcriptom (8) und des Proteoms (9) und der Präzisionsmedizin ist für den Patienten evident. Aber auch für die Unternehmen, die Therapie entwickeln ist der Nutzen erheblich. Wird doch die Therapie, wenn sie nur bei identifizierten Zielpatienten eingesetzt wird, deutlich effektiver.  Mit starken, validen Daten beschleunigen sich Entwicklungen und Zulassung und vereinfachen sich Market Access Prozesse.

Ist personalisierte Medizin also die präzise Diagnose von Genen, mRNA und Proteinen sowie cell & gene Therapien? Nun fast. Das NIH definiert personalisierte Medizin als:

„Die Personalisierte Medizin ist ein Zweig/Bereich der Medizin, der Informationen über die Gene, Proteine und das Lebensumfeld des Menschen nutzt, um Krankheiten zu verhindern, sie zu diagnostizieren und zu behandeln.“

Zell- und Gentherapien sind mit 6-7-stelligen Preisen teuer. Auch Daten zu Genom, Transkriptom und Proteom zu erhalten, klingt aufwendig und damit teuer. Bedeutet dies, personalisierte Medizin findet nur bei schweren Erkrankungen wie in der Onkologie und bei Orphan Diseases statt? In diesen Fällen unbedingt, aber ausschließlich?

Die Frage ist doch: Geht personalisierte Medizin nicht auch schon einfacher?  

Braucht es z. B. einen Gentest, um zu sehen, ob Mann oder Frau? Nun, meistens nicht. Die sogenannte Gendermedizin zeigt seit vielen Jahren auf, wie unterschiedlich Medikamente auf Männer und Frauen wirken. Das Bewusstsein dafür steigt, das Thema wurde sogar schon in der Boulevardpresse (10) aufgegriffen. Dennoch werden nahezu alle Medikamente in den klinischen Entwicklungsphasen 1 und 2a in Männern getestet und damit auf den Mann „personalisiert“. Es fängt mit der Dosis an, da der Mann im Durchschnitt größer und schwerer ist. Aber auch Pharmakokinetik und Pharmakologie werden außer bei frauenspezifischen Medikamenten, am System Mann entwickelt.

Dies setzt sich in der Ausbildung der Ärzte fort. In Lehrbüchern und selbst in den Praxen finden sich, mit Ausnahme der Gynäkologie, anatomische Tafeln, die einen Mann darstellen.

In den Auswertungen der klinischen Studien werden Subanalysen bei Frauen und Männern durchgeführt, so wie bei unterschiedlichen Ethnien auch. Fast immer liegen die Prozentzahlen der Nebenwirkungen bei Frauen deutlich höher als bei Männern. Wie könnte die bessere Alternative aussehen? Zwischen Mann und Frau unterscheiden? Klingt selbstverständlich und lapidar, ist jedoch bei weitem nicht überall umgesetzt. So spielt nach dem MELD-Score der Kreatininwert eine große Rolle bei der Organvergabe zur Lebertransplantation. Da Männer meist eine höhere Muskelmasse haben, erreichen sie diesen Wert deutlich schneller.

Einige Firmen haben das Thema erkannt, und so kann der Verband forschender Arzneimittelhersteller VfA erste Fortschritte in der genderspezifischen Entwicklung für einige Medikamente berichten (11).

These 2:

Personalisierte Medizin fängt bei der Unterscheidung von Mann und Frau an!

Wie in der Definition des National Institutes of Health (NIH), spielt in der personalisierten Medizin der Faktor Lebensumstände eine ebenso große Rolle wie die Gene, also die Epigenetik, die das Abbild der Lebensführung darstellt.

Das Alter ist sicher einer dieser Lebensumstände. Körperliche Fitness, Ernährung, Rauchen oder Nichtrauchen, Stress etc. sind weitere Faktoren, die das „biologische“ Alter prägen.

Alter ist häufig mit „angepassten“ Normwerten verbunden. Dies führt zur Frage: wie bilden sich Normwerte heraus? Ein Wert eines definitiv Gesunden? Laut Wikipedia sind Normwerte in der Medizin empirisch erhobene Werte biologischer Messgrößen, die durch Untersuchung einer großen Anzahl von “normalen” Individuen (“Stichprobe”) erhoben werden, also Durchschnittswerte.

Normal ist also keine zielgerichtete Definition, sondern ein empirischer Mittelwert. Bedeutet dies, in letzter Konsequenz, wenn der Durchschnitt krank, weil z. B. übergewichtig ist, wird das Übergewicht zum Normwert?  Lange wurde Typ 2 Diabetes als Altersdiabetes bezeichnet, dabei spielt der Faktor Gewicht eine deutlich stärkere Rolle, als das Alter.

Lungenfunktionsnormwerte sind ebenfalls auf das Alter angepasst. Sportliche Menschen liegen oft bis zu 50 Prozent über ihrer jeweiligen Altersperzentile.

Allgemeine Ableitungen von Normwerten auf Individuen können fatal sein. Zum Beispiel würden im Fall des sportlichen Menschen krankheitsbedingte Einschränkungen der Lungenfunktion nicht erkannt, da sie ja immer noch in Altersperzentile liegen.

These 3:

Weder Mann, noch Durchschnitt, noch Alter können die richtige Grundlage für Normwerte für alle sein!

Im digitalen Zeitalter könnte die Lösung in vielen Fällen, der individuelle Normwert sein. Die meisten Patienten werden regelmäßig vom Hausarzt untersucht, sodass der Hausarzt die individuellen Normwerte, also die Werte im gesunden Zustand, kennt. Die elektronische Patientenakte (ePA) ermöglicht den Zugriff auf die individuellen Normwerte auch durch verschiedene Ärzte. Sie kann also lebensrettend sein. Warum wird sie so zögerlich genutzt?

These 4:

Digitalisierung unterstützt individuelle Normwerte!

Mittlerweile nutzen 16 Prozent der Bevölkerung Fitnesstracker (12) und hier sind Smartphones noch nicht mitgezählt. Eine Fülle von Gesundheitsparametern wie EKG, Herzrhythmus- oder Herzratenvariabilität, Sauerstoffsättigung des Blutes, mentale Aktivität u.v.m. können über Smartphones und andere Devices kontinuierlich erfasst werden. Die hohe Gewöhnung an das Smartphone, das Erfassen und die Reflektion von Daten leistet der  Nutzung von digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) Vorschub. Bereits 15 DiGA sind zugelassen, können verordnet werden und werden erstattet (13).

Die Digitalisierung ermöglicht ähnlich wie Diagnostik, Precision Medicine und neue Therapieformen wie cell & gene einen enormen Qualitätssprung in der Medizin auf einer breiten Basis. Sie erlaubt dem Patienten in eine neue Selbstverantwortung zu gehen, indem er seine Lebensführung bzw. die Compliance der ärztlichen Empfehlung selbst verfolgt, Fortschritte feststellt und diese als Motivation nutzt.

These 5:

Digitalisierung erfasst große Teile der Lebensführung und gibt dem Patienten eine partizipative Rolle!

Die Gesellschaft für personalisierte Medizin ergänzt daher die Definition der personalisierten Medizin und beschreibt sie mit den 4 Ps: Predictive, Preventive, Personalised und Participating.

Schließlich geht es um nicht weniger, als die Medizin mit den vorhandenen Diagnose- und Therapieoptionen auf eine höhere Stufe zu bringen und damit das hehre Ziel einer wirklich personalisierten Medizin zu erreichen und zwar für die Mehrheit der Patienten, nicht nur für die wenigen Patienten mit schweren Erkrankungen.

FAZIT:

  • Neue Therapien wie Zell- und Gentherapien sind in hohem Maße personalisiert und stellen einen enormen Quantensprung in der Medizin dar.
  • Die Fortschritte in der Diagnostik ermöglichen Precision Medicine.  Sie stellen die Weichen für eine spezifische Therapie für identifizierte Subgruppen, anstatt einer Medizin für alle.
  • Mehr „personalisierte Medizin“ mit all ihren Vorteilen für einen Patienten kann auch durch die Neudefinition und Individualisierung des Normwertes erreicht werden.
  • Digitale Tools geben dem Patienten eine partizipative Rolle.
  • Schließlich sollten klinische Entwicklung bzw. der Einsatz von Medikamenten sehr viel stärker in Subgruppen, wie Geschlechter und genetischer Disposition erfolgen.

„Mit diesen 5 Punkten ist eine personalisierte Medizin für alle machbar,“ so Dr. Inge Bliestle, Life Science Consultant und Business Expert, Mentor des LMU  Innovation & Entrepreneurship Centers und Mitglied der GO Bio Initial Jury. 

Quellen & Abkürzungen

  1. CRISPR: Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats. Dieses System bildet die Grundlage der gentechnischen CRISPR/Cas-Methode zur Erzeugung gentechnisch veränderter Organismen.
  2. CAR-T:  chimärer Antigen Receptor T-cell
  3. Deutsches Ärzteblatt 8/2020
  4. KRAS: Kirsten Rat Sarcoma ist ein Onkogen, das für ein ist ein monomeres G-Protein kodiert, welches eine entscheidende Bedeutung in der Proliferation von bösartigen Tumoren besitzt. Es fungiert als zentrales Element in einer Reihe von Signaltransduktionswegen, welche an der Regulierung von Wachstum und Differenzierung beteiligt sind.
  5. Hall, Kessler, Chasman, Schuckert, Eu. Heart J, 2019
  6. Precision Medicine Präzisionsmedizin ist ein medizinisches Modell, das die Anpassung des Gesundheitswesens vorschlägt, wobei medizinische Entscheidungen, Behandlungen, Praktiken oder Produkte auf eine Untergruppe von Patienten zugeschnitten werden und nicht auf ein Modell, das für alle geeignet ist. (Wikipedia)
  7. McKinsey Oncology report 2020
  8. Das Transkriptom ist die Summe aller zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle transkribierten, das heißt von der DNA in RNA umgeschriebenen Gene, also die Gesamtheit aller in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle (Wikipedia)
  9. Die Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, einem Gewebe, einer Zelle oder einem Zellkompartiment, unter exakt definierten Bedingungen und zu einem bestimmten Zeitpunkt, wird als Proteom bezeichnet (Wikipedia)
  10. Bunte, Nr. 14, 2021
  11. https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/so-funktioniert-pharmaforschung/geschlechtsunterschiede-in-der-medikamentenwirkung.html
  12. Statista 2021
  13. DiGA-Verzeichnis. BfArM, Mai 2021

Autoren des Beitrags

Dr. Inge Bliestle

Inge Bliestle, PhD, is an entrepreneur, consultant and mentor with a passion to turn recent R&D findings into patients’ benefits and successful business.

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