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Mehr Transparenz für mehr Eigenverantwortung?

Mehr Transparenz für mehr Eigenverantwortung?

Brauchen wir mehr Transparenz für Versicherte, um die Rolle von Patienten im Gesundheitssystem zu stärken und mehr Mitsprache und Entscheidungsbefugnis zu ermöglichen? Diese Frage haben Frank Stratmann (1), Mina Lütkens (2) und Dr. Ursula Kramer (3) im Rahmen des LiveTalk der Healthcare Shapers mit interessierten Teilnehmern diskutiert, moderiert von Günther Illert (4), dem Gründer des Netzwerks der Healthcare Shapers.

Im Sommer 2023 forderte der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Tino Sorge, die weit verbreitete Flatrate-Mentalität in der gesetzlichen Krankenversicherung müsse beendet werden (5), und er stößt damit die Diskussion um höhere Eigenbeteiligung der gesetzlich Krankenversicherten an.

Flatrate-Mentalität – passt das in die Welt der Gesundheitsversorgung?

Haben wir wirklich die Flatrate Mentalität im Gesundheitswesen? Schon die Begrifflichkeit „Flatrate“ sei schwierig, betont Frank Stratmann. Wir kennen sie von Telefonverträgen oder von Streamingdiensten. Aber zu medizinischen Leistungen, die Menschen in der Regel unfreiwillig in Anspruch nehmen, wenn sie sich krank fühlen, wenn es ihnen schlecht geht und sie medizinische Hilfe brauchen, will sie nicht so recht passen. Patienten haben in der Regel nicht den Wunsch, nach möglichst viel medizinischer Leistung für möglichst wenig Geld. Wer geht schon gerne freiwillig zum Arzt oder sucht ohne Grund die Notfallambulanz auf? Was sich Versicherte wünschen, ist eher medizinische Hilfe, die sie dann in Anspruch nehmen können, wenn sie diese brauchen. Sie wünschen sich den Termin beim Facharzt oder die Untersuchung im MRT oder den OP-Termin im Krankenhaus, einfach und ohne lange Wartezeiten zu bekommen. Und dann möchten sie auf Ärzte oder Pflegekräfte treffen, die neben einer medizinisch guten Versorgung Zuwendung schenken, Verständnis für sie aufbringen und Einfühlung zeigen.

Gesundheit als Ware wird dem Menschen nicht gerecht!

Frank Stratmann warnt daher vor der Kommodisierung der „Gesundheit“. Gesundheit gelingt nach seiner Überzeugung als „Ko-Kreationsprozess“, immer dann, wenn Arzt und Patient zusammenwirken, kommunikativ und empathisch. Das Denken in Flatrates und die Anspruchshaltung „ich bezahle, du lieferst“, sei gefährlich und der Switch in der Semantik, vom Patienten hin zum Kunden rücke den Patienten weder in den vielzitierten Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems, noch mache es die Menschen, die medizinische Leistungen in Anspruch nehmen müssen, zwangsläufig zu Entscheidern. Wenn Gesundheit zur Ware wird, entwerten wir sie vielmehr zu etwas, das mit dem menschlichen Bedürfnis nach Gesundheit nicht vereinbar ist.

Mehr Transparenz als Basis für veränderte Rollenbilder? 

Häufig wird die Informations-Asymmetrie zwischen Patienten und Therapeuten beklagt, die das Rollenbild des Patienten im System zementiert. Patienten schauen zu Therapeuten auf, die im Vorteil sind durch ihr Fachwissen in Diagnose und Therapie. „Ja, aber auch sie wissen eben längst nicht alles, um den Versorgungsprozess optimal steuern zu können,“ gibt Mina Lütkens zu bedenken. Obwohl sie bemüht sind, können sie Patienten lange Wartzeiten und bürokratischen Aufwand oft nicht ersparen, wissen häufig selbst nicht, was die nächsten Schritte in der Behandlung sind. Vorausschauend zu informieren und Patienten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen wird ihnen dadurch erschwert. Nicht selten brennen Behandler und Pflegekräfte unter der Last organisatorischer Defizite und bürokratische Belastungen in Praxen und Einrichtungen aus, frustriert, dass sie Menschen nicht besser helfen können. 

In digitalisierten Versorgungspfaden mehr Platz für menschliche Gesundheitsbeziehungen?

Auch digitalisierte Versorgungspfade und maximale Informationstransparenz durch optimale Datenqualität und Datenverfügbarkeit führen nicht aus diesem Dilemma. Denn auch bei optimaler Datenbasis bleiben Therapeuten und Patienten weiter auf funktionierende Gesundheitsbeziehungen angewiesen. Es gibt objektivierbare Teile in der Gesundheitsversorgung, die sich z. B. unterstützt durch KI-Anwendungen simplifizieren lassen. Und das kann Freiraum schaffen für mehr Interaktion zwischen Menschen. Weil weder Therapeuten noch Patienten als lineare, algorithmische Wesen funktionieren, sind es diese Gesundheitsbeziehungen, die den Boden bereiten für mehr Qualität der Versorgung und der Überforderung in einer immer komplexer werdenden Welt entgegenwirken.

Share to care Modelle: Wo stehen wir in Sachen Partizipation?

Damit Menschen aktiv mitwirken und mitentscheiden können in Fragen ihrer Gesundheit, muss Teilhabe in unserem Gesundheitssystem einfacher werden, betont Mina Lütkens von patients4digital, das setzt eine veränderte Haltung zu Patienten voraus, deren Stimme hörbarer werden muss. Partizipative Modelle, die Patient und Versicherte stärker einbinden, werden in Share-to-care Projekten seit vielen Jahren wissenschaftlich evaluiert (6). In der breiten, praktischen Umsetzung in Einrichtungen und Praxen stehen wir damit jedoch noch ganz am Anfang.

Mehr Transparenz und leicht verständliche Informationsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten sind Voraussetzung dafür, Versorgungsmöglichkeiten und Zugangswege im Gesundheitssystem zu finden. Transparenz allein führt jedoch nicht zwangsläufig zu mehr Partizipation, betont Dr. Ursula Kramer. Es braucht in der Breite der Bevölkerung die Kompetenz, die Angebote der gesundheitlichen Daseinsfürsorge selbstbestimmt zu nutzen. In Deutschland und europaweit ist die Gesundheitskompetenz stark eingeschränkt (7), was die gesundheitliche Chancengleichheit stark behindert. Informationsquellen, die Versicherte durch mehr Transparenz in der Entscheidungsfindung unterstützen sollen, müssen niedrigschwellig zugänglich und intuitiv nutzbar sein. 

Mit neuen Online-Tools die Versorgungs- und Servicequalität ausleuchten

Das kürzlich verabschiedete Krankenhaustransparenzgesetz sieht daher einen Online-Klinik-Atlas vor (8). Ab 1. April 2024 sollen sich Bürger interaktiv über das Leistungsportfolio, die Facharztquoten und Komplikationsraten von stationären Einrichtungen informieren können, um die „richtige“ Klinik für einen Eingriff oder eine Behandlung auswählen zu können. 

Auch die Servicequalität von gesetzlichen Krankenversicherungen soll für Versicherte mit einem neuen Online-Portal besser einschätzbar werden (9). Im Rahmen des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), das im Entwurf vorliegt, sollen alle Kassen verpflichtet werden, über die Häufigkeit der Ablehnung von Leistungsanträgen sowie über Widersprüche und Klagen zu informieren. Die Darstellung soll leicht verständlich nach den Bereichen Zahnersatz, Hilfsmittel und Rehabilitation differenziert werden. Auch der Grad der Digitalisierung, etwa die Zahl der mit einer elektronischen Patientenakte ausgestatteten Versicherten, soll auf dem Portal ausgewiesen werden. 

Fazit: 

  • Qualität braucht Partizipation: Der Kommunikationsexperte Frank Stratmann empfiehlt stationären Einrichtungen Zurückhaltung. Wer kommunikativ nachhaltiger agiert, sich auf Menschen in der Region und deren gesundheitliche Daseinsfürsorge konzentriert und sich nicht am falsch verstandenen Überbieten im Hinblick auf Leistungsangebote beteilige, schaffe Vertrauen. Einrichtungen, die Menschen zugewandt das tun, was gebraucht wird und Kommunikation als Querschnittsdisziplin in allen Abteilungen und allen Leistungsbereichen leben, gewinnen an Qualität, weil sich Menschen gut aufgehoben fühlen und aus diesem Grundgefühl heraus bestmöglich mitwirken an der Therapie
  • Transparenz ersetzt nicht das Vertrauen: Transparenz in Form von Daten und Informationen, ersetzt dieses Vertrauen nicht. Denn auch bei maximaler Transparenz richten sich Menschen im Krankheitsfall an das menschliche Du. Kein Wunder, dass im Werteindex Gesundheit Transparenz nicht mehr auf den vorderen Positionen landet, sondern Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Gemeinschaft (10). 
  • Transparenz führt nicht zwangsläufig zu mehr Partizipation. Wir müssen Menschen befähigen, sie brauchen die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in einem Gesundheitssystem, das erklärt, das zuhört und das mitentscheiden lässt und natürlich auch mehr Transparenz liefert durch bessere Verfügbarkeit und Nutzung von Gesundheitsdaten.

Unsere Experten in der Diskussion um Transparenz als Schlüssel zu mehr Beteiligung und Eigenverantwortung von Versicherten

  • Mina Lütkens ist Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers und Gründerin von Patients4Digital (P4D), einer Initiative, die sich für ein patientenorientiertes zukünftiges Gesundheitssystem 4.0 einsetzt, in dem Bürger:innen ihre neue Rolle im digitalisierten Gesundheitswesen und Gesundheitsmarkt aktiv gestalten und wahrnehmen können.
  • Frank Stratmann ist Experte für Gesundheitskommunikation, Moderator und Consultant. Er berät mit seiner Agentur betablogr professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligte in sich verändernden Gesundheitsmärkten. Er ist außerdem Kurator im Netzwerk Digitalwerk 
  • Dr. Ursula Kramer, Digital Health Expertin und Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers. Sie hat 2011 HealthOn, die Qualitätsplattform für Gesundheitsapps gegründet, um die Transparenz und Qualität des digitalen Angebotes an Gesundheitsanwendungen zu verbessern. Mit ihrem Angebot möchte sie die digitalen Gesundheitskompetenz stärken und digitalen Gesundheitsanwendungen den Weg in die Gesundheitsversorgung bahnen.

Quellen:

  1. Frank Startmann https://www.linkedin.com/in/betablogr/
  2. Mina Lütkens https://www.linkedin.com/in/mina-luetkens-democratize-health/
  3. Dr. Ursula Kramer https://www.linkedin.com/in/ursula-kramer-healthon/
  4. Günther Illert
  5. CDU: "Flatrate-Mentalität" bei Versicherten, zdf heute, 13.08.2023  https://www.zdf.de/nachrichten/politik/cdu-krankenversicherung-flatrate-100.html
  6. Share-to-care https://share-to-care.de/projekte 
  7. Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Health Literacy Survey Germany (HLS-GER 2) https://www.nap-gesundheitskompetenz.de/2021/01/22/zweiter-health-literacy-survey-germany-hls-ger-2-ver%C3%B6ffentlicht/
  8. Klinik-Atlas https://www.aerztezeitung.de/Politik/Kabinett-macht-Weg-frei-fuer-Lauterbachs-Klinik-Atlas-442787.html
  9. Transparenzportal Krankenkassen https://www.aerztezeitung.de/Politik/Lauterbach-plant-Qualitaets-Vergleichsportal-fuer-Kassen-440526.html
  10. Werteindex. Wie Deutschland denkt und fühlt. Der neue Werteindex: Wie Deutschland denkt und fühlt — Bonsai Research (bonsai-research.com)

Autoren des Beitrags

Dr. Ursula Kramer

The Digital Health Expert advises companies on successfully placing their innovations in the healthcare market, establishing sustainable business models and thus expanding the competitive position and growth of small and medium-sized pharmaceutical and medtech companies as well as start-ups.

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