Gesundheitsdaten – Schlüssel zur besseren Prävention und Versorgung
Technologische Entwicklungen wie etwa Künstliche Intelligenz (KI) oder die Digitalisierung oder Miniaturisierung von Sensoren ermöglichen der Wissenschaft, komplexe medizinische Herausforderungen durch neue Erkenntnisse aus immer mehr Daten anzugehen. Den Akteuren in der Gesundheitsversorgung fällt es nach wie vor schwer, diese Daten abzugreifen und dann auch zu nutzen, wie der Healthcare Movers Germany Report, ein Bestandsaufnahme zur digitalen Wettbewerbsfähigkeit der Gesundheitswirtschaft zeigt (1).
The Power of Healthcare Data
Wie kann es gelingen, die an vielen Stellen in den Lebenswelten der Menschen und den medizinischen Versorgungspfaden unserer Gesundheitssysteme generierten Daten strukturiert zu erfassen und zu nutzen? Wie schaffen wir es, auf Grundlage von Datennutzung neue und individualisierte Präventions- und Behandlungsansätze voranzutreiben, um die Patientenversorgung zu verbessern und die Effizienz unserer Gesundheitssysteme zu steigern?
Crack Complexity – Unleash Potential
Diese Fragen standen beim Executive Roundtable: Power of Healthcare Data am 11. Mai in Frankfurt im Fokus. Das Treffen wurde vom Beraternetzwerk der Healthcare Shapers und Morgan Philips (2) initiiert und von Günther Illert, dem Gründer der Healthcare Shapers, moderiert (3).
Durch Kollaboration gewinnen
Kein Unternehmen für sich allein kann heute das volle Potenzial der Gesundheitsdatennutzung im Gesundheitswesen ausschöpfen. Die Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers beschäftigen sich daher nicht nur mit der smarten Nutzung von Daten für die Gesundheitswirtschaft, sondern schaffen Vernetzungen, die Kollaborationen ermöglichen — über Unternehmens- und Sektorengrenzen hinweg, zwischen den smartesten Player der IKT-Branche (IKT = Informations- und Kommunikationstechnologien) und den innovativen, wachstumsstarken Biotech-, Pharma- und Life Science Playern.
Aus dieser Motivation heraus haben die rund 50 Entscheider beim Excecutive Roundtable über Chancen, den potenziellen Nutzen und die Power von Healthcare Data diskutiert. Die Akteure aus Medizintechnik, Pharma, Startups, Krankenhäusern und Kostenträgern suchen allesamt nach Wegen, die Datenvielfalt im Healthcare Bereich effizienter zu nutzen und Mehrwerte mit Daten zu generieren.
Drei Experten haben in ihren kurzen Impulsen Erfahrungen geteilt, um mögliche Lösungsansätze mit den anwesenden Entscheidern zu diskutieren.
Quantensprung in personalisierter Medizin durch bessere Gesundheitsdatennutzung
Fernando Andreu, CEO des Biotech Unternehmens 2cureX (4) leistet Pionierarbeit mit seinem Unternehmen, das die 3D-Darstellung von Tumoren nutzt, um daraus die individuelle Sensitivität von Krebspatienten gegenüber verschiedenen Therapeutika einschätzen zu können. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich in der Medizintechnikbranche mit Passion dafür ein, technologische Innovationen auf den Markt zu bringen, insbesondere in der Onkologie. „Unternehmen kombinieren heute sehr geschickt und smart Daten aus klinischen Studien mit Real World Daten aus der Lebenswelt von Patienten, um daraus bessere Erkenntnisse abzuleiten.“ Aus den Anfängen der personalisierten Medizin mit „Genomics“ haben sich mittlerweile „Multi-Omics“-Ansätze entwickelt, die aus der Entschlüsselung und dem besseren Verständnis von individuellen Unterschieden des Mikrobioms und des Metabioms neue therapeutische Ansätze ableiten. Das gelingt unterstützt durch Methoden der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur in der Bildgebung vielfältig Anwendung finden, sondern auch auf diesem Gebiet unverzichtbar sind.
Auch für die Nutzung von Daten aus den persönlichen, elektronischen Patientenakten von Millionen Versicherten braucht es diese Methoden. Wenn weitgehend nicht verknüpften Datensilos einzelner Leistungserbringer zu smarten Datenräumen zusammenwachsen und damit auswertbar werden, läutet das den Quantensprung in Sachen personalisierter Medizin ein. Die Masse der jährlich erzeugten Gesundheitsdaten wird derzeit in Zettabytes (Billionen Gigabytes) gemessen. „Die Vielfalt und Masse der neuen und verstreuten Datenquellen kann und darf jedoch nicht von einer einzigen Institution verwaltet werden,“ mahnt Fernando Andreu.
Streng regulierte Märkte profitieren besonders von besserer Datenverfügbarkeit
Dr. Markus Jostock, Gründer und Geschäftsführer der ARXUM GmbH (5) einem Startup, das Blockchain-Technologien in die Fertigungsindustrie bringt, sieht die Brücke zwischen Technologie, Daten und Strategie als wesentlichen Erfolgsfaktor für Unternehmen. Der Software-Ingenieur, der die exponentielle Entwicklung in der Chip-Performance über die letzten Jahrzehnte miterlebt hat, erkennt im eigenen Unternehmen, wie die Digitalisierung auch die letzten Papierbastionen erobert. „Die bessere Datenverfügbarkeit hat gerade in streng regulierten Branchen wie Life Sciences und Diagnostik große Vorteile,“ ist er überzeugt. Der automatisierte Datenaustausch und die Dokumentation von Prozessen in mehrstufigen Lieferketten bringen ein deutliches Plus an Sicherheit und Effizienz. Ähnliche Veränderungen werden wir auch in der patientennahen Gesundheitsversorgung sehen, wenn Technologieeinsatz, Datennutzung und Geschäftsstrategien im Einklang stehen und die Wertschöpfung und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verbessern.
Digitalisierte medizinische Pfade – Antwort auf den Ärztemangel hier und weltweit
Wie die Digitalisierung eine leichter zugängliche und kosteneffiziente Gesundheitsversorgung für alle Bürger ermöglichen soll, zeigte Daniela Hommel auf. Sie ist die Geschäftsführerin der Curalie GmbH (6), einem Unternehmen im Helios-Fresenius Konzern.
Aus ihrer Sicht stellen der Personalmangel und die Kostenexplosion aktuell die größten Herausforderungen im Gesundheitswesen dar. Allein in Deutschland fehlten bereits heute 5.000 Ärzte. 15.000 seien es, wenn man die in den Krankenhäusern tätigen Ärzte mit einbezieht. „Wenn man davon ausgeht, dass ein Arzt etwa 10 bis 20 Menschen pro Tag behandeln kann, sind das etwa ein Drittel der Deutschen, die schon heute keine angemessene Behandlung mehr erhalten, und das, obwohl Deutschland mit 44 Ärzten pro 10.000 Einwohnern weltweit auf Platz 8 liegt,“ verdeutlicht Daniela Hommel. In anderen Ländern der Erde, wie Afrika, Asien oder Lateinamerika versorgen lediglich 8 bis12 Ärzte 10.000 Einwohner, die Herausforderungen sind hier noch gravierender. “Wir brauchen digitalisierte medizinische Pfade, mit denen wir die häufigsten Krankheiten in der Breite auch mit weniger Ärzten gut behandeln können“.
Mit Curalie, einem vernetzten, digitalen Versorgungssystem rückt der Patient als Nutzer in den Mittelpunkt: Mit Selbst-Checks auf ihrer Gesundheits-App können Patienten ihre Symptome, ihren Gesundheitszustand und ihre Risiken überprüfen und sich dann über Videokonsultationen mehr oder weniger in Echtzeit medizinischen Rat einholen. Alle Daten des Patienten sind im System gespeichert, werden dort analysiert und stehen den Behandelnden zu Verfügung. Sie können bei Bedarf zeit- und kosteneffizient geteilt werden.
Natürlich könne nicht alle Patienten und nicht alle Schritte im Versorgungsprozess digital abgebildet werden. Es sind weiterhin Bluttests oder Röntgenaufnahmen zur Diagnosestellung erforderlich und damit Vorort-Termine. Die Untersuchungen im Rahmen der erweiterten Anamnesen bietet Helios in modular aufgebauten Medical Cubes an, das sind Container, in denen Menschen auf engstem Raum in einer zum Teil auch arztfreien Mini-Praxis untersucht und behandelt werden können. Die Curalie Symptom-Checker zur Ersteinschätzung durch Patienten, ein Netzwerk von telemedizinisch angebundenen Ärzten, und die sog. „Health.Cubes“, kleine Mini-Praxen für Vor-Ort-Behandlungen, funktionieren heute bereits in Ländern wie Kenia und Vietnam. Aber auch für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen Deutschlands gibt es bereits konkrete Anfragen und Pilotprojekte.
Gesundheitsdatennutzung ja, aber…
Viele Fragen in der Diskussion drehen sich um das „Wie“ einer Nutzung von Gesundheitsdaten. In der Forderung, dass wir große Datenmengen aus unterschiedlichen Versorgungsquellen brauchen, um besser Muster und Trends zu identifizieren und daraus Erkenntnisse für Risikofrüherkennung und Therapie abzuleiten, herrscht Einigkeit unter den Experten vor Ort. Ebenso klar scheint die Forderung nach standardisierten Datenformaten und gemeinsamen Schnittstellen als Kernstück interoperabler Systeme, die den Datenfluss und die Datenauswertung über Sektorengrenzen hinweg ermöglichen. Diskussionsbedarf besteht weiterhin, wie Datenschutz und Datensicherheit so ausgestaltet werden können, dass sie den Schutz der Privatsphäre der Patienten mit dem Recht auf Datennutzung bestmöglich vereinbar machen. Der Nutzen für die Vorhersage von Krankheiten und die Entwicklung von Präventionsstrategien ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie die Chance auf eine bessere Steuerung von Ressourcen und auf die Beseitigung von Engpässen und ineffizienten Prozessen.
Fazit der Diskussion: Es ist noch viel zu tun ist, um den nahtlosen Austausch von Daten zwischen verschiedenen Einrichtungen zu ermöglichen und die Komplexität in Sachen Datenaustausch und Datennutzung zu entwirren, damit wir die bisher ungenutzten Potenziale von Gesundheitsdaten für bessere personalisierte Medizin und eine optimierte, öffentliche Gesundheitsvorsorge freisetzen.
Let’s shape healthcare — together!
Quelle: Executive Roundtable: Power of Healthcare Data, 11. Mai 2023, Frankfurt Veranstalter: Healthcare Shapers und Morgan Philips
- Healthcare Movers 2020 – Germany Report – Healthcare Shapers
- https://www.morganphilips.com/en-de/insights/resources/executive-networking-dinner
- Günther Illert – Healthcare Shapers
- The power of precision. For every cancer patient. Today. | 2cureX
- Revolutionizing Business with Blockchain | Arxum
- The Curalie App – your health coach with teledoctor
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Innovative Versorgung, Leadership
EU AI Act – für eine bessere digitale Welt?
Der neuen EU AI Act (1) ist mehr als eine weitere Richtlinie, die das regulatorische Korsett für Unternehmen der Life Science- und MedTech-Branche einschnürt. Diese EU AI Act läutet, nach Einschätzung von Kevin Schawinski (2), Gründer der Modulos AG (3) und Experte für die Datenqualität von KI-Anwendungen, einen Shift ein hin zu einer vollkommen neuen Daten-Philosophie, so der Tenor beim HCS Live-Talk der Healthcare Shapers. Warum ist das so, und was heißt das für Unternehmen aller Branchen, die automatisierte Entscheidungssysteme entwickeln und nutzen möchten?
Es geht im Kern um den Schutz der Bürger. Denn automatisierte Entscheidungssysteme können Leben und Gesundheit maßgeblich beeinflussen, wenn aus großen Datenmengen mit Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) und des Maschinellen Lernens (ML) Empfehlungen abgeleitet werden, z. B. medizinische Diagnosen, die Eignung für Jobs, die Kreditwürdigkeit von Bürgern und Unternehmen etc.. Und die EU denkt dabei durchaus groß: Sie will mit dem EU AI Act den Grundstein legen für eine „bessere“, digitale Welt – auch außerhalb der EU.
„Faire“ KI-Anwendung – bessere, digitale Welt?
KI-Anwendungen sollen überall auf der Welt und in allen Lebensbereichen – Gesundheit, Finanzen, Infrastruktur und Bildung – die bürgerlichen Grundrechte wahren. Keine Bevölkerungsgruppe soll durch die Nutzung automatisierter, KI-gestützter Entscheidungssysteme benachteiligt werden. Das ist ein großer Anspruch, der den vielen Chancen und den großen potenziellen Risiken dieser neuen Anwendungen Rechnung tragen und der den Grundstein legen soll für Vertrauen und Akzeptanz in diese Systeme.
Für Entwickler heißt das: Wer KI-Systeme trainiert, muss dies mit Daten tun, die die höchstmögliche Qualität aufweisen, die valide sind, alle relevanten Bevölkerungsgruppen einschließen und Ergebnisse erzeugen, die mit den Grundrechten von EU-Bürgern vereinbar sind. Die erforderlichen Maßnahmen zur Einhaltung dieser Standards sind bereits im Entwicklungsprozess zu dokumentieren und bei unangekündigten Audits den Nationalen AI Regulatoren ggfls. offenzulegen, sonst drohen empfindliche Strafen.
KI – keine Spielwiese für Entwickler
Was bezweckt die EU damit? KI-Systeme sollen keine Spielwiese für Entwickler werden, denn die Gefahr ist viel zu groß, das Vertrauen in diese zukunftsweisenden Technologien zu verspielen. Deshalb wird Data Science grundsätzlich reguliert, wenn KI-Anwendungen mit „hohem Risiko“ entwickelt werden. Was „hohes Risiko“ genau bedeutet, bleibt gesetzgeberisch absichtlich vage, um Hersteller grundsätzlich für die hohen Anforderungen an die Qualität der verwendeten Daten zu sensibilisieren, auch wenn weniger risikobehaftete KI-Anwendungen entwickelt werden. Wer KI-Methoden in der Entwicklung von Produkten und Services nutzt, muss zeigen, dass er die Risiken sorgfältig analysiert hat und den Kontext umfassend einschätzen kann, in dem z. B. automatisierte Entscheidungshilfen genutzt werden. Fragen zur möglichen Verzerrung von Daten (Bias), zu potenziellen Störgrößen, die unliebsames “Grundrauschen” (Noise) verursachen, sowie zur Respräsentativität (Repräsentanz) der Daten muss der Hersteller überzeugend beantworten können. Potenzielle Risiken, die sich aus der KI-Anwendung für Bürger ableiten, müssen eingeschätzt und durch entsprechende Maßnahmen mitigiert werden können. Denn die Anwendungen sollen diskriminierungsfrei funktionieren, bei Frauen ebenso gut, wie bei Männern, unabhängig von Alter oder Hautfarbe, Bildungsstatus, Einkommen etc.
Damit ist der EU AI Act nach Einschätzung des Experten für Data-centric AI – Kevin Schawinski – nicht die Bremse, die durch hohe Regulierungshürden Innovation abwürgt. Vielmehr setzt dieser zukunftsweisende EU AI Act die schützenden Rahmenbedingungen, damit KI-Anwendungen ihre Potentiale zum Nutzen aller Bürger entfalten können. Der EU AI Act hat nach Einschätzung von Kevin Schawinski das Potential, als globaler Standard weltweit exportiert zu werden, wie die Europäische Datenschutzgrundverordnung. Die GDPR hat sich als Qualitätsstandard etabliert, der in globalen Märkten akzeptiert wird und als Gütesiegel für den Schutz der persönlichen Daten der Anwender gilt. Der EU AI Act kann der nächste Exportschlager werden und einen Beitrag leisten für „faire“ KI-Anwendungen in einer besseren, digitalen Welt.
Quellen:
- EU AI Act – Artificial Intelligence Act: Council calls for promoting safe AI that respects fundamental rights, Press Release Dec 2022
- Kevin Schawinski. LinkedIn Profile
- Modulos AG, Zurich. Data-centric AI enterprise platform that helps to find the errors, noise and bias in data so fairer and better AI can be built even faster.
Beim HCS Live Talk dabei sein?
Die HCS Live-Talks – einmal im Monat, 60 Minuten – bieten die Chance, sich mit Experten zu vernetzen und auszutauschen, oder selbst eine innovative Idee oder ein Produkt zur smarten Nutzung von Daten im Healthcare Kontext einzubringen. Gerne direkt anmelden oder bei Fragen Günther Illert, Dr. Ursula Kramer oder Brigitte Lippmann aus dem Netzwerk kontaktieren. Die Teilnahme an den HCS Live Talks ist kostenlos.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Healthcare Shapers LIVE Talk, Patientenorientierung