
Die Medical Device Regulation (MDR) und die In-vitro-Device Regulation (IVDR) treten 2020 bzw. 2022 in Kraft und werden die Geschäftsgrundlage vieler Medtech-Firmen grundlegend verändern. Insbesondere im Bereich Regulatory Affairs muss massiv investiert werden. Medizinprodukte sind CE-kennzeichnungspflichtig und müssen ein sogenanntes Konformitätsverfahren durchlaufen, dessen Komplexität sich am Risiko des Produktes orientiert.
Die Anforderungen in diesem Konformitätsverfahren werden zukünftig insgesamt verschärft. Für Klasse I Produkte mit geringem Risiko kann der Hersteller die Konformität weiterhin ohne Benannte Stelle (Notified Body) erklären. Allerdings rutschen etliche Produkte der bisherigen Klasse I in die Klasse II, so dass eine Benannte Stellen auditieren muss. Im Bereich der In-Vitro-Produkte, die bisher zu rund 80 Prozent keiner Auditierung bedurften, müssen sich Hersteller nun einem aufwändigeren, standardisierten Prozedere unterwerfen.
Auch nach der Markteinführung muss der Hersteller die Wirksamkeit seiner Produkte anhand von klinischen Daten, z. B. aus der Marktüberwachung, dokumentieren (1).
Durch strengere Auflagen an die Zulassungsstellen (Notified Bodies) und die verschärfte Überwachung der Akkreditierungsbehörden sowie die sinkende Anzahl der Notified Bodies in Europa, wird es zu Engpässen im Zulassungsverfahren kommen. Für komplexere Medizinprodukte geht man von Verzögerungen von bis zu vier Jahren aus (2).
Um rechtzeitig den neuen Vorschriften zu genügen und die dazu notwendige, regulatorische Expertise in Unternehmen auf- und auszubauen, sind zusätzliche Personalressourcen erforderlich. Die Kosten für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die 95 Prozent aller Medtech-Firmen ausmachen, sind enorm. Unter der Annahme von zwei zusätzlichen Mitarbeitern pro Unternehmen belaufen sie sich in den nächsten drei Jahren kumuliert auf über 10 Mrd.€ (3).
Risiken erfolgreich steuern:
3 Tipps für eine gute Vorbereitung auf die MDR
Interview mit Roman M. Müller, Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers. Er ist Geschäftsführer und Inhaber der rm² Strategy Consulting.
Herr Müller, Sie sind seit knapp 20 Jahren in der Medizintechnikbranche aktiv. Welche Tipps im Umgang mit der neuen MDR geben Sie MedTech-Unternehmen?
Die Entwicklungsprozesse für medizinische Produkte sind ohnehin komplex. Die Änderungen durch die neue MDR erhöhen die Kosten und den Zeitaufwand für die Zertifizierungsprozesse und die Überwachung der Produktsicherheit in den Unternehmen erheblich. Bei den Benannten Stellen wird die Neubewertung aller neuen und bestehenden Medizinprodukte zu Verzögerungen im Zertifizierungs- und Überwachungsprozess führen.
1. Gute Vorbereitung heißt enge Abstimmung mit Behörden
Gut vorbereitet können Unternehmen frühzeitig Maßnahmen ergreifen, um in einem reibungslosen Übergang das Portfolio ihre Medizinprodukte neu zu bewerten und die Zertifizierungs- und Überwachungsprozesse entsprechend der neuen MDR erfolgreich anzupassen. Deshalb sollten Unternehmen potenzielle Compliance-Fragen frühzeitig mit Ihrer Benannten Stelle diskutieren, um entsprechende Implementierungsprozesse zu entwickeln.
2. Gute Vorbereitung heißt Konzentration auf leistungsstarke und verkehrsfähige Medizinprodukte
Unternehmen werden sich unter den verschärften regulatorischen Rahmenbedingungen nur mit überzeugenden Medizinprodukten im Markt behaupten können. Deshalb müssen sie jetzt ihre Produktportfolios neu bewerten, d. h. den Aufwand für die veränderten Anforderungen an Marktüberwachung und Zulassungsprozess kalkulieren. Sind zusätzliche klinische Studien erforderlich, wie verändert sich der Personaleinsatz? Letztlich werden die Produktkosten neu berechnet. Unter Einbeziehung von Marktpotentialen, Lebenszyklen und der Wettbewerbssituation eines jeden Medizinproduktes im Portfolio lassen sich valide Investitionsentscheidungen treffen und Veränderungen des Return on Investment (ROI) in der Bilanzplanung (P&L) mittel- und langfristig abbilden.
3. Gute Vorbereitung heißt die Organisationsstrukturen und die Vermarktungsstrategie an die Rahmenbedingungen anpassen und zeitnah implementieren
Unternehmen müssen wissen, ob und wenn ja wie, Marketing- und Vertriebsstrategien angepasst und organisatorische Strukturen gegebenenfalls verändert werden müssen. Strategische Unternehmensziele sind in strukturierte Projektplanungs- und Umsetzungsprozesse zu überführen, mit denen die Verkaufsteams gesteuert werden können. Das ist ein mehrstufiger Prozess, in dem sich entscheidet, wie gut es Unternehmen gelingt, z. B. Übergangsfristen sinnvoll zu nutzen und Verzögerungen, die durch die Überlastung der Zulassungsbehörden zu erwarten sind, erfolgreich zu überbrücken.
Faktenbox MDR: Hintergrundwissen
Die Medical Device Regulation (MDR) ist eine Europäische Richtlinie. Sie wird die derzeitige EU-Richtlinie für Medizinprodukte 93/42 / EWG durch die EU-Richtlinie 90/385 / EWG ersetzen.2. Wann wird die MDR implementiert?
Die MDR trat am 25. Mai 2017 mit einer Übergangsfrist von 3 Jahren bis zum 26. Mai 2020 in Kraft.
3. Wann müssen Hersteller von Medizinprodukten der neuen MDR entsprechen?
Hersteller von derzeit zugelassenen Medizinprodukten haben eine Übergangszeit von drei Jahren (bis zum 26. Mai 2020), um die Anforderungen der MDR zu erfüllen. Dieser Übergang kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 26. Mai 2024 erweitert werden.
4. Was sind die wichtigsten Änderungen im neuen MDR?
Einige der wichtigsten Änderungen umfassen…
- Bisher nicht regulierte Produkte werden zu Medizinprodukten
Erweiterung des Produktumfangs. Die Definition von Medizinprodukten und aktiv implantierbaren Medizinprodukten wird erheblich erweitert, um Produkte einzuschließen, die keinen medizinischen Verwendungszweck haben, und Geräte, die zum Zweck der “Vorhersage” einer Krankheit oder eines anderen Gesundheitszustands entwickelt wurden. - Die Risikobewertung bestehender Medizinprodukte wird verschärft
Neu-Klassifizierung von Produkten nach Risiko, Kontaktdauer und Invasivität. Die MDR fordert von den Herstellern, die Klassifizierungsregeln zu überprüfen und ihre technische Dokumentation entsprechend zu aktualisieren. - Medizinprodukte mit hoher Risikoklassifizierung müssen Sicherheit und Leistungsprofile in klinischen Studien nachweisen
Präzisere klinische Nachweise für Klasse-III- und implantierbare Produkte. Die Hersteller müssen klinische Bewertungen durchführen, wenn sie nicht genügend klinische Nachweise haben, um Aussagen zur Sicherheit und Leistungsfähigkeit eines bestimmten Gerätes zu belegen. - Medizinprodukte der mittleren Risikoklasse müssen gegebenenfalls ebenfalls klinische Studiennachweise für Sicherheit und Nutzen erbringen
Systematische klinische Beurteilung von Medizinprodukten der Klassen IIa und IIb. Der Hersteller muss seine klinische Bewertung erneut vorbereiten, indem er den neuen Wortlaut der Verordnung darüber berücksichtigt, wann ein Äquivalenzansatz ausreichend ist und unter welchen Umständen es gerechtfertigt ist, keine klinischen Untersuchungen durchzuführen. - Bessere Markttransparenz durch Einführung eines eindeutigen Produktschlüssels für alle Medizinprodukte.
Mit dem eindeutigen Produktschlüssel Unique Device Identification (UDI) werden sowohl das Produkt als auch die Produktion identifiziert, die Rückverfolgbarkeit soll so z.B. bei Produktrückrufen verbessert werden. Ab dem 26.05.2020 sollen dann sowohl alle Wirtschaftsakteure als auch deren MDR-Produkte in der Europäischen EUDAMED Datenbank verfügbar sein. - Strengere behördliche Überwachung durch die Benannten Stellen. Dies geht unternehmensseitig mit einem höheren Aufwand in der Dokumentation und der Einhaltung der Vorschriften durch Benennung einer verantwortlichen Person einher.
- Es gibt keine Ausnahmen, d. h. alle derzeit zertifizierten Medizinprodukte und aktiven implantierbaren Medizinprodukte müssen unter Einhaltung der neuen Vorschriften erneut zertifiziert werden.
5. Gibt es Übergangsfristen?
Artikel 120 Zertifikate, die vor dem 25. Mai 2017 oder während der Übergangszeit gemäß den Richtlinien 90/385 / EWG und 93/42 / EWG ausgestellt wurden, bleiben bis zum Ende der im Zertifikat angegebenen Frist gültig. Vorausgesetzt, dass es keine signifikanten Änderungen gibt, z.B. organisatorische Änderungen, Änderungen, die nicht mit dem Design und dem beabsichtigten Zweck zusammenhängen. Bis zum 26. Mai 2020 sind parallele Zertifizierungen möglich. Die letzten MDD / AIMDD Zertifikate laufen am 26. Mai 2024 ab und der Abverkauf ist dann noch bis zum 26. Mai 2025 möglich. Danach sind die MDD / AIMDD Zertifikate nicht mehr gültig.

Quelle: MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018
Weiterführende Links
- Praxisbeispiel aus der Beratungspraxis von Roman Müller: Ein Mittelstandsunternehmen aus Baden-Württemberg stellt sich den Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR).
- MDR: Checkliste für eine erfolgreiche Implementierung
Quellen
- NZZ Neue Zürcher Zeitung, Europäische Medtech-Branche fürchtet verspätete Zulassungen, 12.02.2018
- MedInform, Aktueller Stand der Implementierung der EU-Medizinprodukte-Verordnung, Köln, 13.03.2018
- ConCep+, THINKING AHEAD! 12. LIMEDex Index Report – Q4/ 2017, 12.01.2018
- MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018