Health Startup: Sag, wie hältst du´s mit dem Vertrieb?
Wie früh sollten Startups der MedTech und Life Science Branche Vertriebs- und Marktzugangsthemen mitdenken? Von Anfang an! Denn stecken Vertriebsprofi und Entwickler innovativer Versorgungslösungen sehr früh die Köpfe zusammen, steigen die Chancen auf eine Erfolgsgeschichte ganz erheblich, ist Corinna Ernst überzeugt. Als selbstständige Vertriebsexpertin kennt sie den Grund, warum Startups am häufigsten scheitern: Sie entwickeln ein Produkt, ohne die Bedürfnisse ihrer Kunden und deren Herausforderungen gut genug zu kennen (1).
Vertriebsprofi früh ins Boot holen
Entwickler von Produktinnovationen im Life Science und Healthcare Markt haben häufig eine sehr tiefe Fachexpertise in einem hochspezialisierten und komplexen Anwendungskontext und eine ausgeprägte Leidenschaft für die Produktentwicklung. Wissenschaftler, Forscher oder Gründer sprechen begeistert und gerne über ihre Produkte, die sie in- und auswendig kennen. Nicht wenig sind verliebt in jedes Detail ihrer Entwicklung und schalten – wenn es um ihre Produkte geht – am liebsten auf „Senden“. Ganz anders der Vertriebsprofi. Er ist ein Übersetzer – der aus Produkteigenschaften Anwendernutzen formuliert und ein guter Zuhörer, der die Bedarfslage von Anwendern erfragt, verdichtet und versteht. Spezialisiert auf den MedTech und Life Science Markt kennt er die spezifischen Eintrittshürden in den national sehr verschiedenen Märkten, die Entscheider, die Investitionszyklen sowie die Fördertöpfe. Ob und wie schnell und effizient innovative Versorgungslösungen auch wirtschaftlich erfolgreich in eigenen oder anderen europäischen oder internationalen Märkten fußfassen können, entscheidet sich für die Anbieter ganz wesentlich an der Expertise der Vertriebsprofis, die mit im Boot sind.
Marktzugang – Schicksalsfrage für viele Startups
Auch wenn Produktlösungen „super“ sind, erklären sie sich ohne tiefe Produktkenntnis nicht von selbst. Außerdem beeinflussen viele produktunabhängige Faktoren, ob eine Lösung von Versorgungseinrichtungen gekauft, von Leistungserbringern genutzt und von Kassen vergütet werden können. Für die Anbieter von innovativen Diagnose- oder Therapieunterstützungen wird die Frage des Marktzugangs damit häufig zur Schicksalsfrage. Health Startups – viele davon universitäre Ausgründungen – erhalten von Acceleratoren und Inkubatoren (2) Wagniskapital und erste öffentliche Fördermittel. Sind diese aufgebraucht, droht trotz einer vermeintlich guten Produktidee häufig früh das Aus, sie scheitern (3,4). Zu viele – produktunabhängige – Hürden sind zu überwinden, zu wenig Kompetenz und Erfahrung auf Seiten der Forscher und Gründerteams sind vorhanden, um „guten Produkten“ den Weg zu den Anwendern zu bahnen, um spezifische Hebel und Marktmechanismen zu erkennen und zu nutzen.
Gesundheitsmärkte sind nationale Märkte, die Vertriebsstrategien sind es auch!
Der hochregulierte Gesundheitsmarkt macht den Weg für Produktinnovationen besonders steinig. Der Anschaffung von High Tech Investitionsgüter, z. B. neue Diagnostik-Tools oder Labortests, gehen in der Regel lange Budgetplanungsphasen voraus, auch Anträge auf öffentliche Fördergelder für die Implementierung von Innovationen sind zeitaufwändig und können einen langen Vorlauf haben. Kreative, auf die Einrichtung und ihre Möglichkeiten angepasste Bezahlmodelle gehören ebenso zum Repertoire eines Vertriebsprofis wie die Rolle des „Übersetzers“, der den Entscheidern in der Beschaffung den Nutzen eines Produktes im Vergleich zu etablierten Lösungen vermitteln kann. Wer ist überhaupt der Entscheider? Wie denken die zukünftigen Anwender über das Produkt, wie lässt sich ein belastbares Feedback in kurzer Zeit einholen und wie gewinnt man Fürsprecher für sein Produkt? Das alles sind klassische Vertriebsaufgaben. „Ins Gespräch kommen mit den zukünftigen Anwendern, verstehen, wie die Investitionsprozesse für eine bestimmte Innovation laufen, und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein,“ das ist die Stärke, von der Unternehmen profitieren, wenn sie mit Vertriebsprofis zusammenarbeiten“, betont Corinna Ernst .
Was dabei zählt, sind persönliche Kontakte und Netzwerke. Wer den Zugang zu Netzwerken hat, kann leichter als andere Entscheider identifizieren und strategische Allianzen zu Unternehmen knüpfen und daraus Synergien ableiten für die beteiligten Partner: Kosteneinsparungen, Knowhow-Transfer, effiziente Nutzung von Vertriebskapazitäten. „Häufig denkt man bei Vertrieb erst an Außendienst und kommt reflexartig zum Schluss: Das können wir uns (noch) nicht leisten!“, eine Reaktion, die Corinna Ernst aus ihrer Beraterpraxis kennt.
Schlanke, zielgerichtete Vertriebsberatung trägt erstaunlich schnell Früchte
Was gerade junge Unternehmen dabei vergessen: Beratung zur Vertriebsstrategie ist in einer frühen Phase, bevor eine Produktentwicklung abgeschlossen ist, sehr fokussiert. Es gilt, mit den richtigen Unternehmen und Institutionen zu sprechen, die Evaluation des patientenrelevanten Nutzens unter Berücksichtigung der leitliniengerechten Versorgung mitzudenken, Fürsprecher zu finden. Ein gutes Forum bieten z. B. Kongresse und Fortbildungen, auf denen sich Anwender über Herausforderungen in der Diagnose oder Therapie austauschen. Dort bieten sich gute Gelegenheiten, eine Produktinnovation ins Gespräch zu bringen – bitte nicht als „Werbe-Show“, sondern als Teil eines unabhängigen, fachlichen Diskurses, der Anbietern den Nutzen ihrer Entwicklungen spiegeln kann. Abhängig von den Indikationsschwerpunkten ist das Geflecht von Fachgesellschaften und Berufsverbänden und die jeweilige Fortbildungslandschaft sehr unterschiedlich organisiert. „Wenn ich mit Unternehmen ein Beratungspaket individuell für die jeweilige Produktinnovation entwickle, zeigt bereits ein erster, auf die vorhandenen begrenzten Ressourcen abgestimmter Maßnahmenplan sehr schnell Früchte“, betont Corinna Ernst. „Wenn man das Zusammenspiel von Leistungserbringern und Kostenträgern kennt und die gesetzlichen Rahmenbedingungen nutzen kann und den Markt versteht, hat man als Vertriebsprofi immer auch die Wirtschaftlichkeit der Geschäftsmodelle im Auge und wirkt darauf hin, die Weichen einer Produktinnovation auf Markterfolg zu stellen.“
Fazit: Unternehmen, die sich mit ihren Produktinnovationen im Markt etablieren wollen, holen sich frühzeitig einen Vertriebsprofi ins Boot, der ressourcenschonend und effektiv die entscheidenden Erfolgshebel für den Marktzugang ihrer Produkte identifizieren und souverän bespielen kann.

Zur Autorin:
Corinna Ernst unterstützt als Vertriebsprofi überwiegend ausländische Unternehmen (Startups) dabei, ihre Medizinprodukte auf dem deutschsprachigen Markt (D/A/CH) zu etablieren. https://www.corinna-ernst.de/
Quellen:
- Die häufigsten Gründe, warum Startups scheitern. November 2019 https://www.gruenderszene.de/galerie/grund-zum-scheitern
- Inkubatoren und Accelerator für Startups in Deutschland https://t3n.de/news/inkubatoren-accelerator-startups-deutschland-655475/2/
- Förderung der Digitalen Gesundheit. Juli 2019. https://healthcare-startups.de/foerderung-der-digitalen-gesundheit/
- Das Problem vieler Startups ist die Anschlussfinanzierung https://gruender.wiwo.de/dipat-das-problem-vieler-start-ups-ist-die-anschlussfinanzierung/ Januar 2018
Bildnachweise: © depositedhar, Maren Kolf Fotografie
- Veröffentlicht in Market Access
Fähigkeitenlandkarte: Digitalturbo auch für Pharma & MedTech?
Geschäftsmodelle, Produkte, die Art der Zusammenarbeit – auf allen Ebenen schüttelt Digitalisierung Unternehmen durch: Das bekommt auch die Gesundheitswirtschaft zu spüren. Das Business verändert sich so schnell und nachhaltig, dass die Steuerung von Innovationsprozessen immer komplexer wird. Andere Märkte – Retail, Finance und vor allem Automotive – sind deutlich früher gestartet mit ihren digitalgetriebenen Transformationsprozessen. In allen Branchen ist ein Erfolgsmuster erkennbar, ist Dr. Sinan Perin überzeugt: „Die erfolgreichen Unternehmen entwickeln eine Landkarte der zukünftigen Fähigkeiten, die sie brauchen, um im veränderten Marktumfeld wettbewerbsfähig bleiben zu können. Sie prognostizieren die groben Veränderungen, auch wenn sie diese im Detail heute noch nicht kennen.“ Fähigkeiten – das ist nicht die Technik allein – und Fähigkeiten, damit ist auch nicht das Expertenwissen gemeint. Die Fähigkeitenlandkarte bildet die Gesamtbefähigung einer Organisation ab, Lösungen zu generieren für Herausforderungen von morgen. Und hier zählen Vielfalt und Tiefe sowie Mensch und Technik.
Interview Healthcare Shapers und marenas consulting
Die Healthcare Shapers und marenas consulting sind strategische Kooperationspartner seit 2019 (1). Günther Illert, Gründer des Healthcare Shapers Netzwerks und Dr. Sinan Perin, einer der beiden Geschäftsführer von marenas consulting im Gespräch.
Günther Illert: Mit Eurem fähigkeitenbasierten Ansatz schlagt Ihr einen neuen Weg ein. Worum geht es dabei?
Dr. Sinan Perin: Das Fähigkeiten-Management sichert den Einklang von Vorhaben mit der Strategie. In einem ersten Schritt wird die Strategie in Geschäftsfähigkeiten heruntergebrochen. Ein Zielhorizont von vier bis fünf Jahren haben wir in der Automobilindustrie bereits erfolgreich getestet und umgesetzt. Die Fähigkeiten umfassen einen Teil der heutigen Stärken. Jedoch müssen sehr viele völlig neue Fähigkeiten ausgebildet werden, von denen die meisten zudem IT basiert sind. Die Ergebnisse werden in einer Fähigkeitenlandkarte zusammengefasst und bieten so einen Referenz- und Orientierungsrahmen für die Stakeholder im Unternehmen: Auf den ersten Blick werden Fortschritte erkennbar und die notwendige Maßnahmen wie Ressourcenaufbau werden schnell ersichtlich. Die Stärke dieses Ansatzes ist die Prognose zukünftiger Fähigkeitsbedarfe. Auch wenn Produkte und Prozesse noch nicht exakt feststehen, sind die benötigten Fähigkeiten für das Vorhaben meist viel früher absehbar.
Günther Illert: Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Dr. Sinan Perin: Die Fähigkeitenlandkarte bietet die Möglichkeit, diese Lösungen analytisch und strukturiert zu erarbeiten und im Folgenden umzusetzen. Wir selektieren dann die Maßnahmen, die am schnellsten den höchsten Nutzen bringen, und setzen diese um, damit erste Ergebnisse schnell sichtbar werden und die Strategieumsetzung schnell vorangeht.
Günther Illert: KI-Anwendungen in der Gesundheitswirtschaft stecken vielfach noch in den Kinderschuhen, aber gerade etwa in der Radiologie und Pathologie werden bereits heute Diagnosen nicht mehr ohne unterstützende KI gestellt. Wofür brauchen wir den Arzt im digitaliserten Gesundheitswesen in aller erster Linie?
Dr. Sinan Perin: Unsere Vision in einer digitalisierten Healthcare Industrie ist es, dass KI-Lösungen eine medizinische Unterstützungsleistung liefern, die durch die Ärztin oder den Arzt gesteuert und bewertet werden. Ärzte haben dann wieder Zeit, die menschlichen Aspekte wie Empathie in den Vordergrund zu stellen. Nur so kann ein „analoger“ Arzt in 2-4 Minuten sowohl eine fachliche Diagnose liefern als auch empathischer Gesprächspartner der Patientin oder des Patienten sein.
Günther Illert: marenas consulting kommt ursprünglich aus der Automobilbranche. Wieso glaubst Du, dass Ihr in der Gesundheitswirtschaft reüssieren könnt?
Dr. Sinan Perin: Die gesamte Healthcare Branche steht vor einem großen Umbruch. Während einige gute Ideen und Ansätze zur Transformation da sind, wie beispielsweise diverse integrierte Diabetes Apps, fehlen den Unternehmen digitale Strategien, um diese umzusetzen – und manchmal auch der Mut bei den Entscheidern. Die Automobilbranche stand vor circa fünf Jahren an dem gleichen Scheidepunkt wie die Healthcare Industrie heute. Wir haben dort höchst relevante digitale Transformationsprojekte begleitet. Gemeinsam mit den Healthcare Shapers und deren Expertenwissen möchten wir nun Kunden im Healthcare Bereich optimale Lösungen zur effizienten Steuerung der richtigen IT Vorhaben anbieten und die Transformation vorantreiben. Deutschland hinkt im internationalen Vergleich in diesem Bereich bekanntlich hinterher (2).
Günther Illert: Was zeichnet marenas consulting insbesondere aus?
Dr. Sinan Perin: marenas zeichnet sich durch einen systemischen Beratungsansatz aus. Wir sind überzeugt, dass nur die Orchestrierung von Business, IT und Mensch einen nachhaltigen Mehrwert generieren kann. Unser Team besteht aus hochqualifizierten Expertinnen und Experten aus diversen Bereichen und Disziplinen sowie Trainern und Coaches. Wir unterstützen gesamthaft große Konzerne und deren umfangreiche IT-Programme – sehen es dennoch als Aufgabe an, in Einzelprojekten tatkräftig einzugreifen. Wir können Strategien in konkrete digitale Veränderungsschritte und -programme übersetzen. Unser Mehrwert liegt darin, Ergebnisse schnell sichtbar zu machen und dabei den People Aspekt mit entsprechenden Change- und Kommunikationsmaßnahmen als tragende Säule zu berücksichtigen. Unsere Erfahrung zeigt, dass Entscheider leider oftmals von Ängsten und Frustrationen anstatt von Mut und Innovationsgeist getrieben werden. Hier setzen wir an, um die Energie umzulenken und eine gemeinschaftliche, wertschöpfende Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Über marenas consulting

marenas hat in zahlreichen Projekten für Kunden in hochkomplexen Umfeldern IT-basierte Lösungen entwickelt (3, 4). Im Februar 2019 haben die Healthcare Shapers mit marenas consulting eine strategische Partnerschaft geschlossen.
Quellen:
- „Agilisierung“ – Erfolgsfaktor für digitale Transformation der Gesundheitsbranche
- https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/november/digitale-gesundheit-deutschland-hinkt-hinterher/
- Weitere Informationen zu marenas consulting unter https://www.marenas-consulting.com/
- Den Artikel „Killing Time – Planen Sie den Tod Ihres Healthcare Geschäftsmodells“ in voller Länge unter https://www.marenas-consulting.com/wp-content/uploads/2019/09/Killing_Time_V01.pdf
- Veröffentlicht in Digitalisierung, E-Health, Market Access
Digitales Versorgungsgesetz: Der Weg für Apps bleibt steinig
Das Digitale Versorgungsgesetz (DVG) wurde in Windeseile verabschiedet – vom ersten Referentenentwurf bis zur Verabschiedung im Kabinett sind lediglich acht Wochen vergangen (1). Es ist ein ersten Aufschlag, von dem alle Beteiligten wissen, dass er im Detail viele Fragen offen lässt. Spahns “Agiles Regieren” passt in die Zeit, flexibel und schnell werden vermutlich auch die Stellschrauben nachjustiert werden müssen, wenn sich in der Umsetzung die Fallstricke zeigen. Die Regelungen zum Schutz der Nutzerdaten wurden bereits ausgeklammert und in ein zweites Gesetz gepackt (2), damit das Digitale Versorgungsgesetz in seinen Grundzügen noch vor der Sommerpause verabschiedet werden kann. Durch alle Gazetten geistern seitdem die Schlagzeilen von “Gesundheits-Apps auf Rezept”. Verständlich, dass viele App-Anbieter das große Geschäft wittern und die Tür zu Regelversorgung weit offen sehen. Doch vermutlich werden die Maßnahmen des DVGs für die meisten App-Anbieter und die meisten App-Nutzer wenig verändern, betreffen sie doch nur einen winzigen Bruchteil des Marktes der digitalen Gesundheitsanwendungen (3).
Neue gesetzliche Rahmenbedingungen für Digitale Gesundheitsanwendungen
- Digitale Gesundheitsanwendungen, sofern sie als Medizinprodukte zertifiziert sind, werden erstattungsfähig.
- Das BfArM soll diese Produkte in einem Verzeichnis aufnehmen und auf Sicherheit und Qualität testen (4). Wie das genau vonstatten gehen soll, bleibt vage.
- Der Nutzen der digitalen Anwendungen soll nach einem Jahr vom Anbieter belegt werden. Bis dahin erstatten die Krankenkassen den Herstellerpreis. Der geforderte Evidenzgrad des Nutzenachweises soll nach den Vorstellungen des Gesundheitsministers bewusst niedrig gehalten werden. Vermutlich sind es nicht die randomisierten, kontrollierten Studien (RCT), die der Gesetzgeber fordern wird.
Digitalisierungsgesetz: Nur winziger Bruchteil des Marktes im Fokus
Noch sind es wenige Apps, die als CE-zertifizierte Medizinprodukte in den App-Stores für Patienten verfügbar sind (3). Vermutlich werden sich jetzt viele Anbieter Gedanken machen, wie sich das ändern lässt, d. h. wie sie zu einer Medizinproduktezertifizierung und damit an die Geldtöpfe der Gesetzlichen Krankenkassen kommen. Doch Vorsicht: Im Vergleich zu Ernährungs-, Bewegungs-, Entspannungs-Apps werden Medizinprodukte kaum nachgefragt. Und auch nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes und der Erstattungsfähigkeit von Medizin-Apps ab 2020 dürfte sich daran vermutlich erstmal nicht viel ändern. Warum?
Digitale Therapiebegleiter – Neuland für Ärzte & Patienten
Wer hofft, dass Ärzte nach Inkrafttreten des DVG alle fröhlich digitale Anwendungen verschreiben, wird sich vermutlich irren. Denn für die meisten Gesundheitsberufe sind Apps als Arbeitsmittel zur Therapiebegleitung ihrer Patienten absolutes Neuland. Wie diese neuen Werkzeuge in die Versorgung integriert werden, ist völlig offen. Wer Apps empfehlen will, muss wissen, welche Apps es gibt – und ein Blick in das noch nicht näher beschriebene Verzeichnis des BfArMs wird diese Frage vermutlich nicht erschöpfend beantworten. Nur wer die Unterstützungsfunktionen, die Inhalte, die Schnittstellen zu Messgeräten etc. kennt, wird die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendungen verstehen und entscheiden können, für welche Patienten welche App in Frage kommen. Wie hoch dabei der Kommunikationsaufwand wird, hängt auch vom Patienten ab, von dessen digitaler Kompetenz, dem Alter und seinen körperlichen sowie kognitiven Möglichkeiten. Damit nich genug – auch Fragen der Datensicherheit, der Analyse der vom Patienten erhobenen Messwerte oder Tagebucheintragungen oder des Exports von Befunden, Labordaten oder Therapieanleitungen in die Apps werden sich im Praxisalltag ganz neu stellen. Von der Auswahl williger und fähiger Patienten bis zur Besprechung von Daten und der Einbeziehung dieser Informationen in Therapieentscheidungen zeichnet sich ein komplexer, vollkommen neuer Prozess ab, dessen Erfolg vom Zutun vieler Faktoren abhängig ist:
- Es muss “gute” Apps für die Therapiebegleitung geben – die mit aussagefähigen Profilen gelistet sind, z. B. in einem Verzeichnis des BfArMs oder in anderen Bewertungsportalen, z. B. HealthOn.
- Arzt und Patient müssen diese Apps kennen und in der Lage und Willens sein, sie gemeinsam zu nutzen.
Für die Befähigung der Nutzer wird derzeit wenig getan. Es gibt Hilfe zur Orientierung (5,6), es gibt Initiativen, die die Digitalkompetenz von Senioren stärken (7). Die Ärzteschaft hat in der Kommentierung des Gesetzes bereits darauf hingewiesen, dass sie den erforderlichen Support für Patienten, was die Nutzung von Apps anbelangt, nicht leisten kann (8). Sie erwarten diesen Service von den Anbietern der Apps. Weil diese Unterstützung im konkreten Fall vermutlich auch Zugang zu sensiblen Gesundheitsdaten erfordert, ist fraglich, ob sich die Unterstützung der Patienten bei der Handhabung der Apps vollständig an Dritte delegieren lässt.
DVG ruft nach Stärkung digitaler Kompetenzen von Nutzern
App-Anbieter stehen vor der Frage, wie ihre App zum Medizinprodukt der Risikoklassen I und IIa werden kann, sie brauchen Partner, die Aufwand und Marktpotential abschätzen und eine erfolgreiche Market Access Strategie entwickeln können. Im interdisziplinär agierenden Beraternetzwerk der Healthcare Shapers finden sich diese Experten.
Angehörige der Gesundheitsberufe brauchen Fortbildung, um zu lernen, was digitale Medizinprodukte leisten können, welche Patienten davon profitieren und welche Voraussetzungen diese dazu mitbringen sollten. Apps müssen als digitale Bausteine in die Versorgungspfade integriert werden, d. h. sinnvoll in Praxis- und Klinikabläufe eingebunden werden. Bei Empfehlungen von Apps müssen Therapeuten auf Fragen von Patienten antworten können, der Fortbildungsbedarf ist hoch, es gibt wenige, qualitätsgesicherte Angebote (HealthOn Academy).
Krankenkassen sind in der Pflicht, Transparenz zu schaffen und ihren Versicherten aufzuzeigen, mit welchen digitalen Helfer sie sich in der Therapie und in der Prävention unterstützen können. Eine Plattform wie HealthOn bietet die erforderliche Orientierung und informiert u. a. auch über Qualitätssiegel (DiaDigital, Pneumodigital, HealthonEhrenkodex) und Datenschutzsiegel (9) von regulierten und nichtregulierten Gesundheits-Apps. Gesundheitspoltisch Verantwortlichen ist bewußt, dass die Stärkung der Digitale Gesundheitskomptenz ganz wesentlich über den Erfolg der Digitalisierung entscheiden wird.
Die Versorgungsforschung muss definieren, wie Daten in Apps und Wearables erfasst werden sollen, damit sie nutzbar werden für die Wissenschaft (10). Ziel ist es, den Bedarf und die Bedürfnisse von Anwendern an therapeutische Interventionen mit Hilfe der Daten aus der Lebenswirklichkeit von Patienten, sog. Real World Data (RWD) besser als bisher zu verstehen. Aufgabe wird es sein, den wissenschaftlich belegbaren Netto-Nutzen digitaler, komplexer Interventionen zu evaluieren. Deshalb spielt die praktische Ausgestaltung der sog. Datenspende für den Erfolg der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung ebenfalls eine zentrale Rolle.
Über HealthOn
Seit der Gründung der Plattform HealthOn steht die Einschätzung von Qualität und Sicherheit digitaler Gesundheitsanwendungen und die Stärkung der digitalen Kompetenzen von Nutzern im Fokus der Arbeit von Dr. Ursula Kramer und ihrem Team. Die Digital Health-Expertin ist Partnerin im Netzwerk der Healthcare Shapers und teilt ihre Expertise:
- mit App-Anbietern, die die Qualität ihrer Angebote verbessern und sichtbar machen wollen (Qualitätspartnerschaft) und die Unterstützung brauchen auf dem Weg zur Zertifizierung ihrer Medizin-Apps als Medizinprodukte,
- mit Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, die Leistungserbringern (Ärzte, Apotheker, andere Gesundheitsfachberufe) Orientierung geben wollen. Mit CME-zertifizierten Webinare, die Angebot, Sicherheit und Qualität von Gesundheits- und Medizin-Apps in unterschiedliche Indikationsschwerpunkten darstellen, stärkt sie die Digitale Kompetenz und App-Literacy (11, 12) von Gesundheitsfachberufen.
- mit Entscheidern im Gesundheitswesen, die über Marktstudien z. B. auch zu „Medizinprodukte-Apps“ Zugang erhalten zum Wissen über das derzeitige Angebot, über Nachfrage, Qualität und Sicherheit digitaler Gesundheitsanwendungen, um daraus strategische Impulse für die Entwicklung ihrer digitalen Leistungsportfolios abzuleiten.
Quellen:
- http://www.tagesschau.de/digitalisierung-gesundheitswesen-101.html
- https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/digitalisierung-im-gesu…
- Marktanalyse Medizin-Apps 7/2019. HealthOn.
- https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/…
- HealthOn: Online-Checkliste – Gute Gesundheits-Apps finden. https://www.healthon.de/checkliste
- https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2018/05/2018_APS-Checkliste_Ges…
- https://www.healthon.de/blogs/2018/11/02/digitaler-stammtisch-senioren-d…
- https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Or…
- https://www.healthon.de/blogs/2018/05/17/siegel-f%C3%BCr-gesundheits-apps-markt%C3%BCbersicht-einordnung
- https://www.ebm-netzwerk.de/pdf/stellungnahmen/stn-dvg-20190611.pdf
- https://pharmacon.de/veranstaltungen/gesundheits-apps-zur-unterstuetzung…
- Online-Webinare GesundheitsApps: https://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/e-health/article/992160/d…
- Veröffentlicht in Digitalisierung, E-Health, Market Access
Erfolgreicher Eintritt in den deutschen Healthcare-Markt: Ein aktueller Leitfaden
Unternehmen wie SpacePharma, Anbieter automatisierter Testverfahren im Weltall, haben eine ihnen sehr gewogene Ausgangslage: Sie haben ein extrem innovatives Thema – bislang ohne Wettbewerb – gefunden und verfügen über ein einzigartiges Produkt, zu dem es noch keinen Markt, aber einen Bedarf gibt. Mit einer ausreichenden Finanzierung versehen, können sie über Jahre ihre Ideen weiterentwickeln und umsetzen. Doch auch bereits besetzte Marktsegmente können erfolgreich bearbeitet werden. Dieser Artikel wirft einen Blick in die momentanen Gegebenheiten im deutschen Markt und gibt nützliche Hinweise für einen gelungenen Markteintritt.
Lohnende Investitionsbereiche im deutschen Gesundheitsmarkt
Deutschland als viertgrößte Industrienation gibt jährlich 4.213 Euro je Einwohner für die Gesundheit aus (2015). Mit einem Volumen von 344,2 Milliarden Euro ist der deutsche Gesundheitsmarkt für Unternehmen aus aller Welt sehr attraktiv. Hochwertige medizinische Geräte mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis, die den Trends der Computerisierung, Molekularisierung und Miniaturisierung folgen, haben dabei die besten Chancen:
- Zur Computerisierung gehören neben dem Zusammenwachsen der Medizintechnik und Informationstechnologien die Entwicklung leistungsfähiger Implantate durch verbesserte Hard- und Software, die modellbasierte Bildverarbeitung sowie die intelligente Steuerung von Dialyse- und Beatmungssystemen.
- Unter Molekularisierung fallen u. a. Nanopartikel, die gezielt Medikamente freisetzen oder die Entwicklung von neuen funktionellen Biomaterialien, die natürliche Gewebe nachahmen.
- Den Trend der Miniaturisierung erfüllen z. B. Geräte, die eine Untersuchung direkt vor Ort beim Arzt ermöglichen und die Anwendung von implantierbaren Mikrosystemen, die sensorisch, telemetrisch oder mit Nervenankopplung funktionieren.
Auch andere Gebiete versprechen ein hohes Potenzial für Anbieter aus dem In- und Ausland. Dazu gehören Forschungsbereiche, in die derzeit in Deutschland die meisten Investitionen fließen1:
- Bildgebende Verfahren, wie 3D-Bildgebung in Kombination mit Navigation und Darstellung von Instrumenten oder hybride Bildgebung
- Prothesen und Implantate, wie Prothesen mit Sensoren, Aktoren und Regelkreisen, Fallsensoren oder biofunktionale Implantate
- Telemedizin und modellbasierte Therapie, wie Prozessoptimierung durch Einsatz von IT, Critical Incident Reporting Systems (CIRS) oder Clinical Decision Support Systeme
- Operative und interventionelle Geräte und Systeme, wie die Verbindung von Instrument und Datensatz, Augmented Reality oder Kombinationsverfahren (Endoskopie mit Bildgebung)
- In-Vitro-Diagnostik (IVD), wie PoC-Diagnostik mit Lab-on-Chip Systemen oder Multiarray-Systeme für Komplettanalysen mit kleinsten Probenmengen
- Technik für die „Regenerative Medizin“, wie künstliche Gewebemodelle.
Besonderheiten des deutschen Healthcare-Marktes
Die Herausforderungen im deutschen Markt liegen vor allem im Wettbewerb, in der Erstattung und beim Kunden. Der deutsche Markt ist verteilt, die Beziehungen zwischen Anbieter und Leistungserbringern sind gefestigt, d. h. auch ein Unternehmen, das über ein Produkt mit überzeugenden USPs verfügt, muss sich dem Wettbewerb stellen.
Etwa 58 Prozent des Marktes wird von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert, hinzu kommen 8,9 Prozent durch die private Krankenversicherung. Die Anforderungen an die Erstattung sind somit definiert. Im ambulanten Bereich stellt das Hilfsmittelverzeichnis den „Gatekeeper“ zur Erstattung dar. Oft passen hier die Produktgruppen und das neue Produkt nicht zusammen und daher müssen alternative Vertriebsformen entwickelt werden.
Im B2B-Geschäft stehen Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und Apotheken im Mittelpunkt. Das Geschäft mit Krankenhäusern ist komplex, da die Entscheidungsprozesse – gerade bei Investitionsgütern – sehr unterschiedlich sind. Eine Umfrage unter 404 Krankenhäusern2 identifizierte zwölf verschiedene Entscheidungsgremien: Vom Chefarzt, dem Geschäftsführer über die IT, die Medizintechnik bis hin zum Einkauf – und in den verschiedensten Kombinationen. Niedergelassene Ärzte sind zudem mit einem Außendienst nur schwer zu erreichen.
Herausforderungen am Beispiel von mobilen Apps & eHealth-Lösungen
Ein großer Anteil von Firmen, die den deutschen Markt erobern wollen, kommt aus dem boomenden Segment der mobilen Applikationen. Hier sind Erfolge rar gesät, da es oft an Geschäftsmodellen mangelt3. Nur wenige Ansätze medizinischer Apps versprechen in Deutschland Erfolg. Eine Möglichkeit ist die Finanzierung durch Krankenkassen und/oder private Krankenversicherungen oder der Verkauf der Applikation an den Endnutzer. Der Vertrieb an bestehende Leistungserbringer ist eine weitere Option. So sind Anbieter von Hausnotrufen eine begehrte Zielgruppe für Anbieter von Monitoring-Apps (Wearables).
Neben der Frage nach dem Geschäftsmodell sollten Anbieter von mobilen Anwendungen, wie auch anderer eHealth-Lösungen, Antworten auf Fragen haben, die entscheidend für den Erfolg sind:
- Welcher bereits existierende (Versorgungs)-Prozess wird durch die Anwendung verbessert?
- Welche Vorteile hat der Nutzer in der täglichen Anwendung (z. B. echte Zeitersparnis)?
- Wie groß sind die Umstellungen für die Anwender?
- Welcher Aufwand muss für die IT-Administration, das Daten- oder das Entscheidungsmanagement betrieben werden?
Viele Applikationen am Markt zeugen von erschreckender Unkenntnis, was die realen Versorgungsprozesse in Krankenhäusern, Arztpraxen oder zu Hause, betrifft.
Schrittweise Unterstützung für den Markteintritt
Die Entscheidung, in welchem Marktsegment man sich positioniert, gibt die Leitplanken für den weiteren Weg vor. Dies betrifft insbesondere auch den Pfad man zur Geldquelle einschlägt. Im GKV Markt sind es die Hürden der Erstattung, im Privatzahlermarkt das verschlossene Portemonnaie des Kunden.
Nicht nur im B2B-Segment liegen die Herausforderungen in der Verdrängung bestehender Beziehungen zwischen Hersteller und Kunden. Neben Marketing und Vertrieb kommen oft Versorgungskonzepte hinzu, die zusammen mit den Leistungserbringern, wie Apotheken oder Sanitätshäusern, umgesetzt werden müssen.
Abbildung 1: Marktsegmente zur Positionierung
Für jeden Schritt braucht es kompetente Unterstützung aus dem Markt und diese bieten die Healthcare Shapers: Angefangen bei der Entwicklung, Zulassung (Medizintechnik), über Market Access mit Themen wie Reimbursement, Markt-Know-how, Vertriebskonzepte und Versorgungsmodelle bis hin zur Umsetzung stellt das Netzwerk erfahrene Experten mit dem richtigen Wissen.
Quellen:
1 Aachener Kompetenzzentrum Medizintechnik – AKM und AGIT mbH, Zur Situation der Medizintechnik in Deutschland im internationalen Vergleich, 4.2.2005.
2 FAQ Consulting GmbH, Umfrage bei 404 deutschen Krankenhäusern, 2011, Ergebnisse beim Autor.
3 mHealth App Market Sizing 2015 – 2020, Research2Guidance.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Market Access