
Die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) insbesondere in der professionellen Pflege durch digitale Prozesse zu optimieren, das ist das Ziel von Tim Bogdan, Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers und Gründer des Startups hellomed. Mit ihm haben wir über die Chancen der digital-unterstützen Arzneimittelversorgung für die professionelle Pflege gesprochen, wie sie sich auf die Patientensicherheit auswirkt und welche Hürden er für Einrichtungen sieht, diesen Digitalisierungsschritt mitzugehen.
Medikationsfehler kosten tausende Menschenleben und viel Geld
Jedes Jahr verursachen Medikationsfehler hohe Kosten im deutschen Gesundheitswesen, man geht von 800 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro aus [1]. Sie gehen zurück auf vermeidbaren Krankenhauseinweisungen und verlängerten Behandlungszeiten und sind mit hohen Reputationsschäden und großen Haftungsrisiken für die Pflegeeinrichtungen verbunden.
„Patientenverwechslung sowie falsche Medikamentengabe zählen zu den zentralen Sicherheitsproblemen und können mittels digitalisierter Prozesse verbessert werden,“ sagte Dr. phil. Peter Gausmann, vom Aktionsbündnis Patientensicherheit. Nur bei 6,5 Prozent der Patientinnen und Patienten entsprach der allein vom Arzt erstellte Medikationsplan der tatsächlichen Einnahmepraxis“, sagte Ruth Hecker, die Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) mit Verweis auf eine Studie mit 500 Apotheken aus dem Jahr 2015.
Quelle: Deutsches Ärzteblatt 2022 [1]
Was bedeuten digitale Prozesse der Arzneimittelversorgung im professionellen Pflegekontext?
„Pflegedienste und stationäre Einrichtungen stehen am Ende einer oft komplexen Versorgungskette mit Arzneimitteln – aber zugleich an vorderster Front der Patientensicherheit,“ betont Tim Bogdan. „Jede fehlerhafte Verordnung, jedes fehlende Rezept und jede verspätete Lieferung landet in der Schichtplanung der Pflegekräfte. In Zeiten chronischen Personalmangels kann der digitale Reifegrad der Versorgungsprozesse deshalb den entscheidenden Unterschied machen: Mitarbeitenden gewinnen Zeit. Sie bringen ihre Kompetenzen viel lieber in die direkten Patientenversorgung ein, statt sich in Telefon- und Faxwarteschleifen mit bürokratischen Abläufen aufzureiben,“ ist Tim Bogdan überzeugt.
Die fünf Anwendungsfälle mit den größten Fehlerrisiken
Aus seiner Sicht gibt es fünf zentrale Anwendungsfälle, die in der praktischen Medikationsversorgung durch die professionelle Pflege die größten Fehlerrisiken bergen. Diese fünf Beispiele verdeutlichen, warum und wie digitale Werkzeuge unterstützen können. „Und anhand messbarer Kenngrößen können wir in den laufenden Projekten belegen, wie groß der Nutzen für alle Beteiligten ist" erklärt der Experte:
Risiko 1 – Unvollständige oder veraltete Medikationspläne
Praxisfall: Zwei widersprüchliche Medikationspläne eines Patienten erreichen den Pflegedienst bzw. die Pflegeeinrichtung, vermeintliche Arzneimittelwechselwirkungen und Doppelmedikation bleiben unerkannt.
Digitale Antwort: Automatisierter AMTS- & MD-Check bei jeder Aufnahme neuer Patienten bzw. bei jeder Änderung der Medikation - für mehr Arzneimitteltherapiesicherheit und für die bessere Einhaltung der Qualitätskriterien des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MD), dem Kontrollorgan der Pflegeeinrichtungen MD,
• Systematischer Abgleich auf Interaktionen, Doppelverordnungen, Dosierfehler
• Der konsolidierter & freigegebene Medikationsplan nach bundeseinheitlichem Standard ist sofort für alle Behandler verfügbar und wird mit der Pflegesoftware der Pflegedienste und Heime synchronisiert .
Ergebnis: 100 Prozent der Medikationspläne sind geprüft, für rund 25 Prozent der Pläne werden Korrekturen vorgeschlagen, Zahlen, die auf hellomed Kundendaten von 92 Einrichtungen basieren.
Risiko 2 – Arzneimittelvorrat ist aufgebraucht
Praxisfall: Für die nächste Tourenplanung fehlen Tabletten. Die Pflegekraft bestellt ad-hoc im Eilverfahren und unter Stress die erforderliche Medikation.
Digitale Antwort:
• Live Bestandsüberwachung pro Medikament
• Reichweitenberechnung mit Warnhinweissystem
• Automatisierte Bestellung bei Unterschreitung des Sicherheitsbestandes
Ergebnis: Keine Ad-hoc Bestellungen mehr, lückenlose Versorgung.
Risiko 3 – Verspätete Rezepte
Praxisfall: Die Faxbestellung der Arzneimittel ist verschollen, der Arzt ist im Urlaub, das Medikament kommt nicht rechtzeitig.
Digitale Antwort:
• Der automatisierte Rezeptservice fordert die Verordnungen 12 Tage vor Laufzeitende systemgestützt an.
• Der Status der Bestellung wird verfolgt inkl. Eskalationslogik bei Ärzten.
Ergebnis: Bis zu 90 Prozent weniger Telefon- und Fax-Kommunikation, deutlich weniger Lieferengpässe.
Risiko 4 – Intransparenter Bestell- und Lieferstatus der Medikation
Praxisfall: Die ankommende Lieferung ist unvollständig, der Fehler fällt erst beim Stellen der Medikation durch die Pflegekraft auf.
Digitale Antwort:
• Ein Dashboard zeigt die Bestellung und das Rezept und trackt die Arzneimittelversorgung bis zur Übergabe.
• Ein Apotheker-Chat steht für Rückfragen in Echtzeit bereit, kontextgenau zur angezeigten Bestellung und Medikation.
Ergebnis: 99,9 Prozent Liefersicherheit, 70 Prozent weniger telefonische Nachfragen.
Risiko 5 – Manuelles Stellen der Medikation unter Zeitdruck
Praxisfall: Ähnliche Tabletten werden verwechselt, eine Gabe wird übersehen.
Digitale Antwort:
• Patientenindividuelle Verblisterung im Beutel mit vierfacher, optischer Kontrolle.
• Beutelaufdruck mit Angaben zu Form und Farbe des Arzneimittels erlaubt eine schnelle Gegenkontrolle, die Tablettenfotos sind digital abrufbar über die Softwarelösung.
Ergebnis: Genauigkeit ist größer als 99,99 Prozent durch maschinelle Kontrolle und Apothekenzusammenarbeit; der Prozess spart durchschnittlich 20 Minuten Zeit pro Patient und Woche.
Was verändert sich messbar für Pflegedienste und Einrichtungen?
Kennzahlen aus hellomed-Projekten [n=93]:
- 100 Prozent aller Medikationspläne werden systematisch geprüft
- 25 Prozent der Pläne werden durch konkrete Korrekturvorschläge optimiert
- 99,99 Prozent der Tabletten werden korrekt vorsortiert dank individueller Verblisterung
- 90 Prozent der Kommunikation zwischen Pflege, Arzt und Apotheke verläuft digital.
- Durchschnittlich 20 Minuten können pro Patient und Woche eingespart werden.
„Anhand der konkreten Kennzahlen aus der Praxis, die wir in einem Ratgeber zusammengestellt haben [2], wird das Optimierungspotenzial klar ersichtlich, das Pflegeeinrichtungen realisieren können, wenn die Prozesse durchgängig digitalisiert sind,“ fasst Tim Bogdan zusammen.
Was hindert Pflegeeinrichtungen derzeit daran, auf digitalisierte Prozesse umzustellen und Euer System zu nutzen?
"Es sind vor allem personelle Engpässe, die Pflegeunternehmen als Haupthemmnis nennen. Insbesondere bei hohen Krankenständen haben sie keine Zeit für solche "Projekte". Außerdem braucht es die Zustimmung der Patienten, sie müssen eine Einverständniserklärung abgeben, dass die hellomed-Apotheke die Rezepte bei Haus- und Fachärzten anfordern und Medikationsplanvorschläge machen darf. Die betroffenen Patienten und ihre Betreuer müssen informativ abgeholt werden, bevor die Versorgung starten darf. Diese strukturierte Ansprache kann entweder durch das Pflegeunternehmen erfolgen oder hellomed unterstützt dabei."
Gibt es Versorgungssituationen von Pflegebedürftigen, die Ihr mit dem System von hellomed nicht abbilden könnt?
"Grundsätzlich deckt hellomedOS die gesamte ambulante und stationäre Medikationsversorgung ab, inklusive Dauer- und Bedarfsmedikation, auch die Belieferung mit Betäubungsmitteln, mit kühlkettenpflichtigen Arzneimitteln und auch mit medizinischen Hilfsmitteln ist möglich. Es gibt jeodch einige Sonderfälle, die wir aktuell außerhalb von Berlin logistisch noch nicht abdecken können. Das sind extrem kurzfristige Notfälle, z. B. die Akutmedikation mit einem Antibiotikum. Dann werden Rezept und Medikation in wenigen Stunden benötigt. Hier sind wir leider durch die Öffnungszeiten der Arztpraxen begrenzt."
Wie häufig sind solche Versorgungssituationen?
"Diese sehr seltenen Szenarien betreffen ca.1 bis 2 Prozent der Gesamtversorgung. In der Regel handelt es sich um einmalige Akutsituationen oder Sonderfälle in Randzeiten. Durch telefonische Rücksprache und Abläufe, die wir gemeinsam mit den Beteiligten definieren und koordinieren, findet sich auch für diese Fälle eine Lösung."
Was müssen Pflegeeinrichtungen tun, die sich dafür interessieren, ihre Arzneimittelversorgungs-Prozesse mit Eurer Lösung zu digitalisieren?
"Um die Mitarbeitende mitzunehmen, braucht es zunächst eine gute Schulung. Jede Einrichtung erhält deshalb eine strukturierte Einführung in Form einer 30-minütigen Online-Schulung für ihre Mitarbeiter. Zusätzlich bieten wir kurze Lernvideos an, die direkt in der hellomed-Anwendung kontextabhängig abrufbar sind. An sich ist die hellomed-Anwendung sehr selbsterklärend, viele Designelemente kennen die Anwender bereits aus anderen Anwendungen (z.B. Facebook-Glocke für Erinnerungen an die Hinterlegung der Zuzahlungsbefreiung.)
Gibt es spezielle technische Voraussetzungen oder Investitionen, die für die Integration von hellomed erforderlich sind?
Technisch genügt ein internetfähiges Gerät, d. h. ein PC, ein Tablet oder ein Mobiltelefon. Zusätzliche Investitionen in Hard- oder Software sind nicht notwendig. Man kann hellomed über eine Schnittstelle an die bereits genutzte Pflegesoftware anbinden, das ist aber nicht erforderlich, hellomedOS kann völlig eigenständig genutzt werden.
Was braucht es darüber hinaus?
Wie bereits erwähnt, brauchen die Pflegeeinrichtungen die Einwilligung der betreuten Patienten bzw. deren gesetzlicher Vertreter, um mit der hellomed-Apotheke zusammenzuarbeiten. Wir stellen dafür ein rechtssicheres 1-seitiges Formular zur Verfügung. Zudem empfohlen wir, einen zentralen Ansprechpartner in der Einrichtung zu benennen, das macht die Kommunikation und Organisation mit hellomed einfacher.
hellomed übernimmt die komplette technische Einrichtung, das ist kostenlos für die Pflegedienste. Für die Schulung der Pflegekräfte braucht es einmalig 30 Minuten Zeit, um diese mit einer Online-Schulung abzuholen. Damit ist alles startklar! Danach werden die Pflegekräfte in ihrem Arbeitsalltag entlastet und gewinnen Zeit für die Versorgung ihrer Patienten.
Fazit: Eine durchgängig digitale Prozesskette bringt viele Vorteile!
„Digitale Workflows in der Arzneimittelversorgung für professionelle Pflegende minimieren die häufigsten Fehlerquellen, verbessern so die Patientensicherheit und entlasten das Pflegepersonal, das wertvolle Zeit für die persönliche Betreuung und Pflege der Patienten gewinnt. Die End‑to‑End‑Digitalisierung macht aus einem personalintensiven und papierlastigen Prozess einen strukturierten, revisionssicheren Workflow – der komplett dokumentiert ist und die Einrichtungen, auch beim Audit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MD), optimal unterstützt.“ fasst Tim Bogdan die Vorteile zusammen.
Das Interview mit Tim Bogdan hat die Digital Health Expertin und Pharmazeutin Dr. Ursula Kramer geführt, beide sind Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers.
Quellen:
- Ärzteblatt: Patientensicherheit – Medikationsfehler vermeiden (2022). https://www.aerzteblatt.de/archiv/patientensicherheit-medikationsfehler-vermeiden-2a7897af-9ccb-4a6c-b366-2274ddf939bb
- hellomed‑Ratgeber: Top 5 Fehler in der Medikationsversorgung (2025).