
Für eine Versorgung, die die individuellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten in den Fokus rückt und die Qualität von Versorgungsleistungen am Ergebnis misst, braucht es Daten. Zugang zu und Nutzung von Versorgungsdaten werden daher ganz entscheidend die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum von forschenden Pharmaunternehmen beeinflussen, sind sich die Experten beim Healthcare Shapers LiveTalk „Mit Daten vom Arzneimittel- zum Lösungsanbieter“ einig. Mit Thorsten Mintel (1), Director Strategic Innovation bei Pfizer und Thomas Gladisch (2) Digital Innovation Scout bei BI X GmbH – einer Tochter von Böhringer Ingelheim, haben wir darüber gesprochen, wie sie digitale Therapiebausteine in ihr Produktportfolio integrieren und auf welche Herausforderungen sie dabei stoßen. Wie geht Pharma mit den großen Unterschieden in den Entwicklungs- und Vertriebsprozessen sowie den Wertschöpfungsmodellen im Digital Health- und Arzneimittel-Business um und welche Perspektiven ergeben sich daraus für integrierte, hybride Versorgungspfade?
Wofür nutzt Pharma Gesundheitsdaten und welche Datenquellen stehen dabei im Fokus?
Thomas Gladisch ist Digital Innovation Scout bei BI X (3), digitale Innovation ist sein Geschäft. "Wir arbeiten im disruptiven Bereich, verstehen uns als Innovator im Unternehmen für alle Business Bereiche, wobei wir aktuell unseren Schwerpunkt auf Forschung und Entwicklung legen. Wir sind eine eigenständige GmbH, die viele Themen pilotieren kann, bspw. nutzen wir u. a. Data Science-Ansätze zur Analyse von Biodatenbanken, um so die Entwicklung von Produkten sowie die Durchführung klinischer Studien voranzubringen. Wir sind sowohl in der Veterinärmedizin als auch der Humanpharmazie aktiv, wobei hier unser Fokus auf Adipositas und Onkologie liegt.
Mit unserem Vorgehen reduzieren wir potentielle Risiken, in dem wir frühzeitig eruieren, ob ein bestimmtes Problem tatsächlich existent bzw. eine Idee sinnstiftend ist und unterstützen auf diese Weise bei der Business Case Modellierung. Wir validieren Ideen, unterfüttern Use Cases und Business Modelle, um Hypothesen zu verifizieren bzw. zu falsifizieren. Als Innovation Scouts generieren wir darüber hinaus neue Ideen. Wir haben die Freiheit, auch neue Themen auszuloten, die in unserem großen „Mutterschiff“ von Boehringer Ingelheim nicht angegangen werden können, wohl aber in der BI X GmbH, in der wir als agile, unabhängige Unit und 100-prozentige Tochter von Boehringer Ingelheim den digitalen Wandel mitgestalten.
„Datensammeln“ – wie geht das ganz praktisch?
"Ganz wichtig: Wenn wir über Datennutzung sprechen, dann sind es immer aggregierte Daten, aus denen wir Ableitungen machen – große Datenmengen, die keine Rückschlüsse auf einzelne Personen zulassen. Wir greifen nicht direkt in die Versorgung ein, sondern liefern allenfalls eine validere Basis, um die diagnostische Qualität zu verbessern.
Und wir selbst „sammeln auch keine Daten“, sondern arbeiten häufig mit eigenen Datenpools des Gesamtunternehmens oder mit sog. trusted third parties , die Zugänge zu aggregierten Daten haben.
Analysen von Daten u. a. aus nicht-invasiver Sensorik oder Biodatenbanken nutzen wir, um Hypothesen der Fachbereiche im Unternehmen zu widerlegen oder zu verifizieren und so eine bessere Grundlage für Entscheidungsprozesse im Unternehmen zu schaffen," erklärt Thomas Gladisch.
Kann Big Pharma überhaupt Digital Health?
Verfügen Pharmaunternehmen über die notwendigen Expertisen, um auch digitale Therapien erfolgreich zu vermarkten, das haben wir Thorsten Mintel von Pfizer gefragt.
"Wir verstehen den Gesundheitsmarkt, haben eine hohe Expertise in den Indikationsgebieten, die wir mit Arzneimitteln versorgen. Wir kennen die Herausforderungen der Leistungserbringer und die Versorgungssituation der Patienten. Das können wir nutzen und einbringen, um den jungen Markt der digitalen Gesundheitsversorgungslösungen zu entwickeln.
Das Motto, das uns in der Zusammenarbeit mit innovativen Digital Health Startups leitet, heißt Co-create, collaborate, co-innovate! Wir versuchen, entlang der Patient-Journey digitale Tools zu integrieren. Wir machen die Tools aber nicht selbst, sondern wir kooperieren mit den Herstellern und helfen dabei, die digitalen Produkte zu vermarkten, darunter auch DiGAs (SGB V §33a). Dabei bleiben wir sehr eng an unserem strategischen Fokus und bringen in die Kooperationen mit Startups unser Vertriebs- und Marketing- Know-How ein. Wir arbeiten derzeit in einem Projekt mit einer App zur Verhaltenstherapie im Bereich Rauchentwöhnung zusammen, machen auch etwas im Bereich Onkologie und haben eine Kooperation mit einem dänischen Startup, das die Langzeit EKGs revolutionieren wird.
"Für Startups ist es sehr schwer, mit den richtigen Ansprechpartnern in so großen Unternehmen wie Pfizer Kontakt aufzunehmen, ins Gespräch zu kommen und ihre Innovationen vorzustellen," merkt Matthias Steinberger (4) an, der als Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers Health Startups strategisch unterstützt.
"Unser Engagement im Digitalbereich bündeln wir bei Pfizer in unserem Pfizer Healthcare Hub (5), das ist auch die Adresse, die wir allen Health Startups empfehlen, die mit uns ins Geschäft kommen wollen," erklärt Thorsten Mintel.
Digitales Produktportfolio - rechnet sich das wirtschaftlich?
Die digitalen Bausteine bieten wir ausschließlich als als ad-on zu unserem Arzneimittel-Portfolio an, organisatorisch ist das eine Riesenherausforderung. Denn man misst in diesen grundverschiedenen Welten mit ganz unterschiedlichen Maßstäben: Auf der einen Seite haben wir sehr hohe Investitionsbudgets und lange Entwicklungsphasen für die Arzneimittel. Wir denken in 10-Jahres-Forecasts und brauchen hohe Margen, um ein gutes Produkt im Markt zu positionieren und mit gutem Produktservice im Markt zu differenzieren.
Bei digitalen Märkten ist das ganz anders: Die digitalen Tools sind keine eigenständige Sparte bei Pfizer, sie zahlen derzeit auf das Arzneimittelgeschäft ein und lassen sich deshalb in Business Cases nicht isoliert rechnen.
Für digitale Produkte, die laufend weiterentwickelt werden auf Basis der dynamischen Technologieentwicklung, passen die relativ „starren“ Business-Modelle aus dem Arzneimittelmarkt nicht sehr gut.
Außerdem ist der digitale Gesundheitsmarkt im Moment noch ein sehr lokaler Markt. Die Modelle in Europa zur Erstattung sind noch sehr heterogen, das Skalieren ist daher schwer. Alles in allem, sind das sehr hohe Risiken!
Selbst bei Nutzung der Erstattungswege für digitale Innovationen, dem DiGA Fast track hier in Deutschland (6), gibt es die aktuelle Mengenentwicklung im Moment nicht her, ein tragfähiges Stand-alone-Business zu etablieren, d. h. der Absatz ist noch sehr überschaubar und auch die Akzeptanz bei Verordnern und Patienten für digitale Therapien ist in der Breite noch nicht vorhanden. Für sich betrachtet rechnen sich diese Tools noch nicht, zukünftig vielleicht schon.
"Was Margen und Skalierungsmöglichkeiten und auch die Akzeptanz bei den Patienten und Verordnern betrifft, stehen wir mit Digitalen Therapien noch ganz am Anfang," ist Thorsten Mintel überzeugt.
No future without patient focus, patient data?
"Bisher sind Pharmaunternehmen wenig auf Patienten fokussiert, ihre Zielgruppe sind die Leistungserbringer, sie über die richtige Anwendung von Arzneimittel zu informieren, steht im Fokus. Das ist bei Startups anders. Sie fokussieren stark auf den Patienten, der aber bisher nicht der Entscheider ist und bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln auf die Beratung, d. h. den medizinischen Rat der Behandler angewiesen ist," so Martin Katzenmeyer (7), Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers und Diskussionsteilnehmer beim HCS LiveTalk.
"Ja, Pharma kennt den Markt, die Verordner, die Zugangswege zur Erstattung, die Preisfindungsprozesse, die Verhandlungen mit Krankenkassen. Das ist gelebte Praxis, und das können Pharmaunternehmen als wertvolles Pfund in die Kooperationen mit Startups einbringen," ist Thorsten Mintel überzeugt. "Noch sind die Geschäftsmodelle im Gesundheitsmarkt sehr stark auf den Entscheider Arzt und den Vertriebskanal Außendienst ausgelegt. Und die Erstattungswege für Arzneimittel sind in den unterschiedlichen nationalen Märkten deutlich homogener, als das, was wir im Moment im Bereich der digitalen Versorgungslösungen sehen. Das macht die Skalierung einfacher," so sein Fazit.
Digitale Biomarker für mehr Effizienz in der klinischen Entwicklung
"Perspektivisch wollen wir durch die Analyse von Daten aus Biodatenbanken und der Versorgung digitale Biomarker (8) identifizieren, die valide Ableitungen aus Datenmustern erlauben, und uns ermöglichen, z. B. im klinischen Entwicklungsprozess schneller und präziser die Wirkungen sowie die unerwünschten Wirkungen von Therapien einschätzen zu können.
Systematisch erhoben, miteinander verknüpft und ausgewertet, können Daten aus Versorgungsprozessen zeigen, wo es den größten Bedarf an neuen oder besseren Therapien gibt. Diese Einblicke werden uns helfen, die Forschungsaktivitäten zu fokussieren und medizinische Innovationen zu entwickeln, mit denen sich Versorgungslücken schließen lassen oder bereits zugelassene Therapien noch besser an die Anforderungen von Patientinnen und Ärzten angepasst werden können," so der Ausblick von Thomas Gladisch.
Trotz der vielen neuen Möglichkeiten des Datenzugangs und der Datenanalyse bricht Dr. Andreas Erkens (9) eine Lanze für die Klassische Marktforschung."Sie bleibt immer dann wichtig, wenn wir die Gründe für ein Verhalten verstehen wollen, das Warum? Die jeweilige Motivation lässt sich aus Analysen bestehender Daten nur bedingt ableiten, wir sehen dann zwar Muster und wir erkennen ein Verhalten, aber wir wissen nicht, warum es zu diesem Verhalten kommt und was wir tun könnten, um dieses – erwünschte Verhalten zu verstärken oder ein unerwünschtes Verhalten zu vermeiden," so der Strategie Experte aus dem Netzwerk der Healthcare Shapers.
Sprudelnde Datenquellen ebnen Weg zu mehr Patientenorientierung
In dem Maße, in dem sich die Gesundheitsversorgung weiter digital transformiert, z. B. durch die breite Nutzung der elektronischen Patientenakte, die Etablierung von digitalen Therapien sowie Apps und Wearables, werden immer mehr Daten aus der Versorgung strukturiert erfasst und damit analysier- und lesbar. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten, passgenauere Präventions- und Therapieangebote zu entwickeln. Damit rücken Patienten und deren Bedürfnisse und Bedarfe stärker als bisher ins Zentrum der Versorgung. Auf diese Weise triggern Daten den Fokus auf Patientenorientierung, Patient centricity und werden zum wichtigen strategischen Handlungsfeld erfolgreicher Life Science Unternehmen. Das ebnet Pharma den Weg vom Arzneimittelhersteller zum Anbieter für ganzheitliche Versorgungslösungen. "No future without patient focus and data!" - ein Schluss-Statement des Healthcare Shapers Live-Talk, dem alle Experten uneingeschränkt zustimmen.
Quellen:
- Thorsten Mintel https://www.linkedin.com/in/thorsten-mintel-7a79684a/
- Thomas Gladisch https://www.linkedin.com/in/thomas-gladisch/
- BI X GmbH https://www.bix-digital.com/
- Matthias Steinberger https://www.healthcareshapers.com/consultants/matthias-steinberger
- Pfizer Healthcare Hub https://healthcarehub.pfizer.de/
- DiGA Fast Track BfArM - Homepage - The Fast-Track Process for Digital Health Applications (DiGA) according to Section 139e SGB V. A Guide for Manufacturers, Service Providers and Users
- Martin Katzenmeyer Martin Katzenmeyer | Healthcare Shapers
- Digitale Biomarker Digital biomarkers: Convergence of digital health technologies and biomarkers | npj Digital Medicine
- Dr. Andreas Erkens https://www.healthcareshapers.com/consultants/dr-andreas-erkens