Neue MDR: Mehr Sicherheit für Patienten, große Unsicherheit für MedTech-Branche?
Die Medical Device Regulation (MDR) und die In-vitro-Device Regulation (IVDR) treten 2020 bzw. 2022 in Kraft und werden die Geschäftsgrundlage vieler Medtech-Firmen grundlegend verändern. Insbesondere im Bereich Regulatory Affairs muss massiv investiert werden. Medizinprodukte sind CE-kennzeichnungspflichtig und müssen ein sogenanntes Konformitätsverfahren durchlaufen, dessen Komplexität sich am Risiko des Produktes orientiert.
Die Anforderungen in diesem Konformitätsverfahren werden zukünftig insgesamt verschärft. Für Klasse I Produkte mit geringem Risiko kann der Hersteller die Konformität weiterhin ohne Benannte Stelle (Notified Body) erklären. Allerdings rutschen etliche Produkte der bisherigen Klasse I in die Klasse II, so dass eine Benannte Stellen auditieren muss. Im Bereich der In-Vitro-Produkte, die bisher zu rund 80 Prozent keiner Auditierung bedurften, müssen sich Hersteller nun einem aufwändigeren, standardisierten Prozedere unterwerfen.
Auch nach der Markteinführung muss der Hersteller die Wirksamkeit seiner Produkte anhand von klinischen Daten, z. B. aus der Marktüberwachung, dokumentieren (1).
Durch strengere Auflagen an die Zulassungsstellen (Notified Bodies) und die verschärfte Überwachung der Akkreditierungsbehörden sowie die sinkende Anzahl der Notified Bodies in Europa, wird es zu Engpässen im Zulassungsverfahren kommen. Für komplexere Medizinprodukte geht man von Verzögerungen von bis zu vier Jahren aus (2).
Um rechtzeitig den neuen Vorschriften zu genügen und die dazu notwendige, regulatorische Expertise in Unternehmen auf- und auszubauen, sind zusätzliche Personalressourcen erforderlich. Die Kosten für die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die 95 Prozent aller Medtech-Firmen ausmachen, sind enorm. Unter der Annahme von zwei zusätzlichen Mitarbeitern pro Unternehmen belaufen sie sich in den nächsten drei Jahren kumuliert auf über 10 Mrd.€ (3).
Risiken erfolgreich steuern:
3 Tipps für eine gute Vorbereitung auf die MDR
Interview mit Roman M. Müller, Partner im Netzwerk der Healthcare Shapers. Er ist Geschäftsführer und Inhaber der rm² Strategy Consulting.
Herr Müller, Sie sind seit knapp 20 Jahren in der Medizintechnikbranche aktiv. Welche Tipps im Umgang mit der neuen MDR geben Sie MedTech-Unternehmen?
Die Entwicklungsprozesse für medizinische Produkte sind ohnehin komplex. Die Änderungen durch die neue MDR erhöhen die Kosten und den Zeitaufwand für die Zertifizierungsprozesse und die Überwachung der Produktsicherheit in den Unternehmen erheblich. Bei den Benannten Stellen wird die Neubewertung aller neuen und bestehenden Medizinprodukte zu Verzögerungen im Zertifizierungs- und Überwachungsprozess führen.
1. Gute Vorbereitung heißt enge Abstimmung mit Behörden
Gut vorbereitet können Unternehmen frühzeitig Maßnahmen ergreifen, um in einem reibungslosen Übergang das Portfolio ihre Medizinprodukte neu zu bewerten und die Zertifizierungs- und Überwachungsprozesse entsprechend der neuen MDR erfolgreich anzupassen. Deshalb sollten Unternehmen potenzielle Compliance-Fragen frühzeitig mit Ihrer Benannten Stelle diskutieren, um entsprechende Implementierungsprozesse zu entwickeln.
2. Gute Vorbereitung heißt Konzentration auf leistungsstarke und verkehrsfähige Medizinprodukte
Unternehmen werden sich unter den verschärften regulatorischen Rahmenbedingungen nur mit überzeugenden Medizinprodukten im Markt behaupten können. Deshalb müssen sie jetzt ihre Produktportfolios neu bewerten, d. h. den Aufwand für die veränderten Anforderungen an Marktüberwachung und Zulassungsprozess kalkulieren. Sind zusätzliche klinische Studien erforderlich, wie verändert sich der Personaleinsatz? Letztlich werden die Produktkosten neu berechnet. Unter Einbeziehung von Marktpotentialen, Lebenszyklen und der Wettbewerbssituation eines jeden Medizinproduktes im Portfolio lassen sich valide Investitionsentscheidungen treffen und Veränderungen des Return on Investment (ROI) in der Bilanzplanung (P&L) mittel- und langfristig abbilden.
3. Gute Vorbereitung heißt die Organisationsstrukturen und die Vermarktungsstrategie an die Rahmenbedingungen anpassen und zeitnah implementieren
Unternehmen müssen wissen, ob und wenn ja wie, Marketing- und Vertriebsstrategien angepasst und organisatorische Strukturen gegebenenfalls verändert werden müssen. Strategische Unternehmensziele sind in strukturierte Projektplanungs- und Umsetzungsprozesse zu überführen, mit denen die Verkaufsteams gesteuert werden können. Das ist ein mehrstufiger Prozess, in dem sich entscheidet, wie gut es Unternehmen gelingt, z. B. Übergangsfristen sinnvoll zu nutzen und Verzögerungen, die durch die Überlastung der Zulassungsbehörden zu erwarten sind, erfolgreich zu überbrücken.
Faktenbox MDR: Hintergrundwissen
Die Medical Device Regulation (MDR) ist eine Europäische Richtlinie. Sie wird die derzeitige EU-Richtlinie für Medizinprodukte 93/42 / EWG durch die EU-Richtlinie 90/385 / EWG ersetzen.2. Wann wird die MDR implementiert?
Die MDR trat am 25. Mai 2017 mit einer Übergangsfrist von 3 Jahren bis zum 26. Mai 2020 in Kraft.
3. Wann müssen Hersteller von Medizinprodukten der neuen MDR entsprechen?
Hersteller von derzeit zugelassenen Medizinprodukten haben eine Übergangszeit von drei Jahren (bis zum 26. Mai 2020), um die Anforderungen der MDR zu erfüllen. Dieser Übergang kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 26. Mai 2024 erweitert werden.
4. Was sind die wichtigsten Änderungen im neuen MDR?
Einige der wichtigsten Änderungen umfassen…
- Bisher nicht regulierte Produkte werden zu Medizinprodukten
Erweiterung des Produktumfangs. Die Definition von Medizinprodukten und aktiv implantierbaren Medizinprodukten wird erheblich erweitert, um Produkte einzuschließen, die keinen medizinischen Verwendungszweck haben, und Geräte, die zum Zweck der “Vorhersage” einer Krankheit oder eines anderen Gesundheitszustands entwickelt wurden. - Die Risikobewertung bestehender Medizinprodukte wird verschärft
Neu-Klassifizierung von Produkten nach Risiko, Kontaktdauer und Invasivität. Die MDR fordert von den Herstellern, die Klassifizierungsregeln zu überprüfen und ihre technische Dokumentation entsprechend zu aktualisieren. - Medizinprodukte mit hoher Risikoklassifizierung müssen Sicherheit und Leistungsprofile in klinischen Studien nachweisen
Präzisere klinische Nachweise für Klasse-III- und implantierbare Produkte. Die Hersteller müssen klinische Bewertungen durchführen, wenn sie nicht genügend klinische Nachweise haben, um Aussagen zur Sicherheit und Leistungsfähigkeit eines bestimmten Gerätes zu belegen. - Medizinprodukte der mittleren Risikoklasse müssen gegebenenfalls ebenfalls klinische Studiennachweise für Sicherheit und Nutzen erbringen
Systematische klinische Beurteilung von Medizinprodukten der Klassen IIa und IIb. Der Hersteller muss seine klinische Bewertung erneut vorbereiten, indem er den neuen Wortlaut der Verordnung darüber berücksichtigt, wann ein Äquivalenzansatz ausreichend ist und unter welchen Umständen es gerechtfertigt ist, keine klinischen Untersuchungen durchzuführen. - Bessere Markttransparenz durch Einführung eines eindeutigen Produktschlüssels für alle Medizinprodukte.
Mit dem eindeutigen Produktschlüssel Unique Device Identification (UDI) werden sowohl das Produkt als auch die Produktion identifiziert, die Rückverfolgbarkeit soll so z.B. bei Produktrückrufen verbessert werden. Ab dem 26.05.2020 sollen dann sowohl alle Wirtschaftsakteure als auch deren MDR-Produkte in der Europäischen EUDAMED Datenbank verfügbar sein. - Strengere behördliche Überwachung durch die Benannten Stellen. Dies geht unternehmensseitig mit einem höheren Aufwand in der Dokumentation und der Einhaltung der Vorschriften durch Benennung einer verantwortlichen Person einher.
- Es gibt keine Ausnahmen, d. h. alle derzeit zertifizierten Medizinprodukte und aktiven implantierbaren Medizinprodukte müssen unter Einhaltung der neuen Vorschriften erneut zertifiziert werden.
5. Gibt es Übergangsfristen?
Artikel 120 Zertifikate, die vor dem 25. Mai 2017 oder während der Übergangszeit gemäß den Richtlinien 90/385 / EWG und 93/42 / EWG ausgestellt wurden, bleiben bis zum Ende der im Zertifikat angegebenen Frist gültig. Vorausgesetzt, dass es keine signifikanten Änderungen gibt, z.B. organisatorische Änderungen, Änderungen, die nicht mit dem Design und dem beabsichtigten Zweck zusammenhängen. Bis zum 26. Mai 2020 sind parallele Zertifizierungen möglich. Die letzten MDD / AIMDD Zertifikate laufen am 26. Mai 2024 ab und der Abverkauf ist dann noch bis zum 26. Mai 2025 möglich. Danach sind die MDD / AIMDD Zertifikate nicht mehr gültig.

Quelle: MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018
Weiterführende Links
- Praxisbeispiel aus der Beratungspraxis von Roman Müller: Ein Mittelstandsunternehmen aus Baden-Württemberg stellt sich den Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR).
- MDR: Checkliste für eine erfolgreiche Implementierung
Quellen
- NZZ Neue Zürcher Zeitung, Europäische Medtech-Branche fürchtet verspätete Zulassungen, 12.02.2018
- MedInform, Aktueller Stand der Implementierung der EU-Medizinprodukte-Verordnung, Köln, 13.03.2018
- ConCep+, THINKING AHEAD! 12. LIMEDex Index Report – Q4/ 2017, 12.01.2018
- MedTech Europe, Merlin Rietschel, Neues zu den Benannten Stellen, MedInform-Veranstaltung, Köln, 13.03.2018
- Veröffentlicht in Digitalisierung
Qualität von Gesundheits-Apps: Brauchen wir ein Siegel?
Ob und warum ein Qualitätssiegel für Gesundheits-Apps gebraucht wird, steht immer häufiger im Fokus der Diskussionen von Datenschützern, Ärzteverbänden, Fachgesellschaften und Verbraucherschützern. Sie melden sich zu Wort und stellen Forderungen auf. Viele sehen den Gesetzgeber stärker in der Pflicht, fordern mehr Regulierung. Der derzeitige, gesetzliche Rahmen, den Datenschutz- und Medizinproduktegesetz bieten, scheint nicht auszureichen, um Verbraucher und Patienten vor digitalen Gesundheitsanwendungen zu schützen. Dabei ist doch vieles bereits geregelt, möchte man meinen. In der globalen Welt, die nicht Halt macht an nationalen Grenzen, liegt eine der großen Herausforderung in der Durchsetzung dieser Gesetze.
Regulierung – ein wirksames Antidot für Intransparenz?
Resultiert die Forderung nach Regulierung und Reglementierung aus dem Wunsch, die unübersichtliche Angebotsvielfalt einzudämmen auf ein Maß, das kontrollierbar ist? Sehen sich Leistungserbringer und Kostenträger zunehmend verunsichert durch den Ruf von Verbrauchern und Patienten nach Kontrolle über die eigene Gesundheit und die eigenen Gesundheitsdaten, durch ihren beherzten Griff zu digitalen Präventions-, Selbstbefähigungs-, Diagnose- und Therapieoptionen? Sicher wecken digitale Angebote, die rundum-die Uhr und individuell Hilfe bieten, neue Ansprüche, und verschieben möglicherweise die Kräfteverhältnisse in Richtung Patient. Was in vielen anderen Lebensbereichen bereits selbstverständlich ist, der Griff auf digitale Helfer, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten, Wissen abzurufen, Produkte zu kaufen, Services zu buchen, Anbieter zu bewerten, könnte bald auch im Gesundheitsbereich Einzug halten. Warum nicht auch das Smartphone nutzen, um mit Therapeuten zu chatten, Rezepte einzulösen oder Arzneimittel zu bestellen. Warum den inneren Schweinhund nicht digital überlisten, um Gesundheitsziele besser zu erreichen? „Der Geist ist aus der Flasche!“ Der Patient, der geduldig wartet, der sich damit arrangiert hat, die Sprache seines Arztes nicht verstehen zu können, scheint nach und nach durch eine neue Generation der Selbstoptimierer, der Daten- und Informationssammler abgelöst zu werden mit Anspruch auf medizinische Versorgung – jederzeit und überall. Und um diese Patienten vor den Gefahren durch Gesundheits- und Medizin-Apps zu schützen, fordern Datenschützer und Standesvertreter jetzt Gütesiegel ein, die Qualität sichtbar machen sollen.
Reale Gefahren kennen und mit Augenmaß steuern
Die Bedrohung der Patientensicherheit durch Gesundheits-Apps: Wie groß ist sie tatsächlich? Wie viele Menschen sind bisher zu Schaden gekommen? Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zur unzureichenden Validität von Diagnose- und Symptomcheckern (1,2,3,4) und Schrittzählern (5), zu einer beliebten Blutdruck-App, die zu niedrige Werte ausgab und deshalb vom Markt genommen wurde. Es gibt Untersuchungen von Verbraucherschutzverbänden, die beklagen, dass Nutzer nicht explizit auf die Bedeutung der ärztlichen Abklärung vor Nutzung einer App hingewiesen werden. In den USA wurden einzelne Apps, die durch irreführende Wirkversprechen aufgefallen sind, vom Markt genommen. Angesichts der Vielzahl der App-Nutzer und Anwendungen, ist die Zahl der geahndeten Verstöße erstaunlich gering (6).
Auch in Deutschland ist es rechtlich unzulässig, wenn Anbieter in der Bewerbung ihrer Apps Wirkversprechen kommunizieren, die die Therapie oder Diagnose von Krankheiten betreffen, ohne dass diese Apps ein entsprechendes Konformitätsverfahren als Medizinprodukt durchlaufen haben. Gemäß § 3 Nr. 10 MPG ist für die behördliche Einstufung als Medizinprodukt jene Zweckbestimmung entscheidend, die der Anbieter in Gebrauchsinformationen und Werbematerialien (z. B. Website, App-Store-Information) zum spezifischen Produkt auslobt. Ein Haftungsausschluss im Kleingedruckten „Diese App ist kein Medizinprodukt“ schützt den Anbieter daher nicht vor Rechtsfolgen. Allerdings ist über Verstöße, die vom BfArm in Deutschland erkannt und geahndet worden sind, nichts bekannt. Auch keine Meldungen aus den sog. Surveillance-Programmen, die für Medizinprodukte verpflichtend sind, um Sicherheitsprobleme oder Schadensfälle im Zusammenhang mit der Nutzung einer App zeitnah zu erkennen und darauf im schlimmsten Fall mit einem Rückruf der App reagieren zu können. Das heißt nicht, dass von Gesundheits-Apps und Medizin-Apps nicht grundsätzlich Gefahren ausgehen. Fehl- oder Falschinformation, fehlerhafte Berechnungen oder Algorithmen, Verletzungen der Privatsphäre und unzulässige Nutzung gesundheitsbezogener persönlicher Daten – das alles sind potentielle Risiken. Diese durch einen Prüfprozess sicher auszuschalten, ist ein wünschenswertes Ziel. Die Spreu vom Weizen zu trennen und sichere und vertrauenswürdige Apps nach einem sorgfältigen Prüfprozess als solche mit einem Gütesiegel kenntlich zu machen, wäre ideal. Die Frage ist, ob und wie das möglich ist. Absolute Sicherheit wird es auch nach sorgfältigster Prüfung nicht geben, wer diese anstrebt, sollte auf die Nutzung von Gesundheits- und Medizin-Apps besser ganz verzichten.
Prä-digitale Ära: Nicht alles war besser!
Beim prüfenden Blick auf Gesundheits- und Medizin-Apps darf nicht vergessen werden, dass die Arzt-Patienten-Kommunikation auch ohne die Nutzung von Apps nicht frei von Fehlern ist. Viele Menschen kommen täglich aufgrund von Mängeln in der Kommunikation bezüglich ihrer Arzneimitteltherapie zu Schaden. Mit der Digitalisierung verbindet sich die Hoffnung, Kommunikationslücken zu schließen und Arzneimittelsicherheit zu verbessern, ein entsprechendes Modul (AMTS) ist daher als fester Bestandteil der Telematikinfrastruktur (TI) eingeplant.
Etablierte Qualitätskriterien haben weiterhin Bestand
Die Forderung nach einem Gütesiegel ist eng verknüpft mit der Frage, welche Qualitätsanforderungen eine solches Siegel stellen sollte. Aus der prä-digitalen Ära gibt es Kriterien für Gute Gesundheitsinformationen (7), die auch eine gute Gesundheits-Apps erfüllen sollte. Dazu zählen
- Unabhängigkeit, Fundiertheit und Relevanz von Gesundheitstipps und Unterstützungshilfen. Um dies einschätzen zu können, ist die transparente Offenlegung der hierfür erforderlichen Angaben des Anbieters notwendig.
- Evidenz der Empfehlungen. Der Evidenzgrad einer Empfehlung geht auf wissenschaftlich Belege zurück.
- Verständlichkeit der Aussagen, d. h. verständlich für die Patienten, an die sich die Information bzw. der Service richtet.
Erweiterter Qualitätsbegriff im digitalen Zeitalter
Bei digitalen Anwendungen wird Qualität darüber hinaus auch durch die sog. Anwendungsfreundlichkeit (Usability) bestimmt, d. h. die App muss einfach bedienbar sein und den Nutzer ansprechen (User Experience), um genutzt werden zu können. Nur dann wird sie nachhaltig genutzt und kann zur Erreichung langfristiger Gesundheitszielen beitragen.
Schutz und Sicherheit der Gesundheitsdaten: Ganz sicher eine Qualitätsdimension
Ausgetauscht wurden Patientendaten schon immer, mehrheitlich zwischen Therapeuten per Fax oder Brief, allerdings nicht in dem Ausmaß und nicht so einfach, wie das die Digitalisierung möglich macht. Auch diese Kommunikationskanäle konnten und können Datenverluste und Verletzung der Privatsphäre nicht ausschließen.
Durch das Aufzeichnen, Sammeln, Teilen und Versenden von Daten aus der Lebenswirklichkeit des Patienten mit Apps, Smartwatches und Wearables bricht die Big-Data Ära an: Zukünftig werden riesige Datensammlungen generiert (Big Data), von deren Auswertung sich die Wissenschaft neue Erkenntnisse und die Wirtschaft die Chance zur Entwicklung neuer Dienstleistungsangebote erwartet. Das weckt Begehrlichkeiten. Die Herausforderung wird es sein, intelligente Datenschutzkonzepte (z. B. Blockchain-Technologien) zu entwickeln, die den Patienten als Datencontroller in den Mittelpunkt stellen, ihm eine digitale Identität geben und ihn für seine neue Rolle qualifizieren. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bleibt auch im digitalen Zeitalter die entscheidende Zielgröße, die Wege der Umsetzung müssen neu gedacht werden. Aus diesem Grund wird die Qualität einer Gesundheits-App auch entscheidend von der Sicherheit des Austausches der mit ihre erhobenen Gesundheitsdaten bestimmt.
Qualität in der Regelversorgung fordert Nutzennachweis
In Deutschland gibt es keine App, die den Sprung in die Regelversorgung bisher geschafft hat, d. h. die auf Rezept von einem Arzt verordnet und den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse aufgenommen wird. Einige wenige Apps werden im Rahmen von Selektivverträgen (SGB V, §145a) erstattet (8). Welche Apps überhaupt dazu geeignet sind, behandlungsbedürftige Zustände aussichtsreich zu behandeln oder zu verhindern, so dass deren Einsatz bei vertretbarem Risiko einen gesundheitlichen Netto-Nutzen erwarten lassen, muss durch akzeptierte, wissenschaftliche Evaluationsmethoden belegt werden. Wie dieser Nutzennachweis methodisch geführt werden kann, beschäftigt die Versorgungsforschung. Die CE-Kennzeichnung jedenfalls lässt keine Rückschlüsse auf den Netto-Nutzen einer App zu, da das erforderliche EU-Konformitätsprüfverfahren diesen Nutzen gar nicht abprüft.
Gütesiegel – für welche Gesundheits-Apps?
Auf welche Apps sich diese Gütesiegel beziehen soll, bleibt in den Forderungen der ärztlichen Fachgesellschaften, der Datenschützer und der Verbraucherverbände häufig unklar. Bisher gehören Maßnahmen der Primärprävention nicht zum Hauptfokus der Ärzte, die Diagnose und Therapie steht im Mittelpunkt. Apps, die Therapie und Diagnose unterstützen, benötigen eine CE-Zertifizierung, d. h. sie sind als Medizinprodukte deklariert. Bisher sind das nur sehr, sehr wenige (9). Soll sich ein Gütesiegel nur auf diese wenigen Apps beschränken, wird es nicht wirklich zur Orientierung für die vielen Verbraucher und Patienten beitragen können.
Soll ein Gütesiegel auch auf Apps angewendet werden, die auf die Veränderung verhaltensbedingter Risikofaktoren abzielen, die z. B. Unterstützung beim Raucherausstieg, bei der Gewichtsabnahme bieten oder die motivieren zu einem bewegteren Lebensstil? Sinnvoll wäre eine Übersicht über Apps, die hier wirksame Hilfe bieten, schon. Schließlich lässt sich die Entstehung vieler Krankheiten mit hoher Krankheitslast in Deutschland und anderen Industrienationen mindestens teilweise auf lebensstilbedingte Risikofaktoren zurückführen (10). Die Herausforderung wird es sein, diese Apps zu identifizieren, denn das Angebot an Ernährungs-, Bewegungs- und Raucher-Apps zu prüfen, ist weit aufwändiger, weil die Zahl dieser Apps deutlich größer ist.
FAZIT: Es ist Zeit, von der Diskussions- zur Handlungsebene zu kommen, sich im Detail mit den praktischen Hürden in der Umsetzung von Forderungen zu beschäftigen und daraus gangbare Wege abzuleiten (11). Weil nur von einem bekannten und sichtbaren Gütesiegel die gewünschte Orientierung ausgehen kann, ist ein Schulterschluss aller Akteure und eine Bündelung ihre Ressourcen wünschenswert. Nicht jeder muss alle Erfahrungen selber machen und nicht alles ist neu, nur weil es digital ist. Es gibt eine ganze Reihe von Qualitätskriterien, die aus der prä-digitalen Welt stammen (7) und auf Gesundheits-Apps übertragen werden können (12). Und es gibt fundierte, unabhänge Expertise aus der systematischen Analyse des App-Angebotes in Deutschland, die man nutzen kann, um Verbrauchern, Patienten und Therapeuten die geforderte Orientierung zeitnah geben zu können (13, 14).
Die Autorin Dr. Ursula Kramer ist Expertin für Digital Health im Beraternetzwerk der Healthcare Shapers. Die Gründerin der größten Qualitätsplattform für Gesundheits- und Medizin-Apps in Deutschland berät Unternehmen der Gesundheitswirtschaft bei der Entwicklung ihrer digitalen Produkt- und Serviceportfolios und erstellt unabhängige App-Expertisen und Benchmark-Analysen für Gesundheits- und Medizin-Apps. Als Präsidentin des Vereins HealthOn engagiert sie sich für die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz (Digital Health Literacy) von Verbrauchern und Patienten und Healthcare Professionals, denn ohne die Fähigkeit, digitale Gesundheitsanwendungen zum eigenen Wohl und selbstbestimmt zu nutzen, werden sich die großen Erwartungen auf mehr Qualität, Effizienz und Patientenorientierung im digital umgebauten Gesundheitssystems ihrer Meinung nach nicht realisieren lassen.
Quellen
- Wolf J., Moreau J., Akilov O. et al. Diagnostic Inaccuracy of Smarthphone Applications for Melanoma Detection, in: JAMA Dermatol., 149 (4). S. 422-426.
- Kassianos A.P., Emery J. D., Murchie P, Walter F. M. (2015). Smartphone applications for melanoma detection by community, patient and generalist clinician users: a review*. British Journal of Dermatology
- Semigran Hannah L, Linder Jeffrey A, Gidengil Courtney, Mehrotra Ateev. Evaluation of symptom checkers for self diagnosis and triage: audit study BMJ 2015; 351 :h3480
- Plante TB, Urrea B, MacFarlane ZT, et al. Validation of the Instant Blood Pressure Smartphone App. JAMA Intern Med. 2016;176(5):700-702. doi:10.1001/jamainternmed.2016.0157.
- Kooiman T et al. (2015). Reliability and validity of 10 consumer activity trackers. BMC Sports Sci Med Rehabil. 2015; 7: 24.
- Healthon 9/2015. Klage gegen Medizin-App, die Sehkraft verbessern soll.
- EbM Netzwerk & Universtität Hamburg. Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation. Version 1.0. Erstellungsdatum 20.02.2017
- Healthon 8/2017. Kassenverträge für Gesundheits-Apps: Per aspera ad astra.
- Kramer, U. Wie gut sind Gesundheits-Apps? Aktuel Ernahrungsmed 2017; 42(03): 193-205. DOI: 10.1055/s-0043-109130
- Plass D et al. Trends in disease burden in Germany – results, implications and limitations of the Global Burden of Disease Study. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 629–38. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0629
- Kramer, U. Lernen von Portalen weltweit. E-HealthCom 6/2017
- HealthOn-Ehrenkodex für Gesundheits-Apps
- HealthOn: Gesundheits-Apps: Noch mehr Transparenz für Verbraucher. Juli 2017
Datenschutz hat auch mit Interessenschutz zu tun: Interview mit Dr. U. Kramer Operation Gesundheitswesen. Der gesundheitspolitische Informationsdienst. OPG 17-29
- Veröffentlicht in Digitalisierung, E-Health