Das deutsche Gesundheitswesen – (noch nicht) digital
In Deutschland erwirtschaften bereits 27 Prozent der Unternehmen mehr als 60 Prozent ihres Umsatzes auf digitalen Kanälen. Schlusslichter sind laut Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und Monitoring Report Wirtschaft Digital die Einrichtungen des Gesundheitswesens und die Pharmaindustrie. Die Ursachen sind vielfältig, doch die Notwendigkeit ist hoch, Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Praktische Beispiele zeigen Nachbarländer auf, wo der Patient dank digitaler Vernetzung eine individuelle Versorgung genießt.
Ein Kernproblem für den zögerlichen Wandel von „individuellen, papiergebundenen Abläufen hin zu strukturierten, wiederholgenauen und geplanten Prozessen, die durch Informationstechnik gestützt und abgebildet werden“, so eine Definition für Digitalisierung, ist das Fehlen einer Nachfrageseite im deutschen Gesundheitsmarkt. Helfende Marktkräfte werden zum Beispiel durch paternalistische Traditionen unterbunden: Ärzte und andere Heilberufe wehren sich dagegen, Digitalisierung zuzulassen und damit Inhalte, Abläufe und Wissen zu demokratisieren. Kassenärztliche Vereinigungen wiederum entscheiden unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit und der Bedarfsplanung hoheitlich über den kollegialen Schutz vor anderen. So lassen sich schwer neue Praxen umsetzen, in denen Digitalisierung normal sein könnte: durch den Zugang aller zur gleichen Datenlage, Integration von Telemedizin in den Alltag oder nur eine Online-Terminplanung für Patienten. Die deutschen Apotheken ihrerseits gehen gerichtlich gegen den Online-Wettbewerb vor und Pharmaunternehmen ruhen sich auf ihren momentanen Renditen aus, obwohl letztere über riesige Wissensressourcen verfügen, um sich „dem individuellen Patienten“ zuzuwenden. Nicht nur die Weltgesundheitsorganisation beklagt, dass die Hälfte aller Medikamente nicht sachgerecht oder gar nicht eingenommen werden. Diese meist bewussten Patientenentscheidungen machen damit 50 Prozent der Aufwendungen des Gesundheitssystems frucht- und erfolglos.
Digitalisierung bedeutet Demokratisierung und Individualisierung
„Cave linguam“ hieß es früher, wenn Patienten während der Chefarztvisite nicht zu viel verstehen und Assistenzärzte ihre Zunge im Zaum halten sollen. Heute gibt es Internetseiten, die Befunde und Diagnosen in Patientensprache übersetzen, Arbeitsgruppen, die Beipackzettel verständlich machen und nicht zu vergessen: „Dr. Google“. Patienten sind weit entfernt davon, eine amorphe Masse darzustellen. Millionen individueller Patienten suchen nach Antworten auf die Fragen „Was habe ich? Was tut das mit mir? Was kann ich dagegen tun?“ und müssen „fragefähig“ gemacht werden, um eine Nachfrage ausüben und gute Entscheidungen treffen zu können. Patientenindividuelle Unterstützung in großem Stil kann deswegen nur die digitale Technik leisten.
Das Kantonspital Genf stellt bereits eine technische Plattform bereit, auf der jeder Patient seine Daten sehen, mit eigenen Erkenntnissen anreichern und mit Menschen seiner Wahl teilen kann. Auch der National Health Service (NHS) in England plant das Gesundheitswesen in absehbarer Zukunft vollständig papierlos zu gestalten. Partizipation, Fragefähigkeit, sachgerechte, zertifizierte und verstehbare Informationen zur eigenen Erkrankung herzustellen, muss Ziel der Digitalisierung im Gesundheitswesen sein. Die Frage ist, welche der aktuellen Player im Gesundheitswesen sich diesem Thema wann verschreiben werden? Solange Ärzte per Gesetz vor ihren Kollegen, Ärzte vor Apothekern und diese wiederum vor anderen Apotheken geschützt werden, und es nicht gelingt, die sektorale Trennung aufzuheben, bleibt Digitalisierung eine erkennbar unwillkommene Randerscheinung.
Handeln, bevor Uber kommt
Möglicherweise wird es ein digitales Startup sein, dass Krankheitsprävention und Patientenversorgung auf den Kopf stellt, „radikale Patientenorientierung“ umsetzt und Pharma zur Zulieferindustrie degradiert. In einem solchen Szenario werden Krankenkassen und -versicherungen nur Kostenträger bleiben. Es wird auch hier gelten: Wer sich nicht ändert, wird geändert.
Die digitale Disruption hat erst begonnen und ihr Momentum beschleunigt sich weiter. Es ist wert daran zu denken, dass Paypal nicht von einer Bank und AirBnB nicht von einem Hotelkonzern betrieben werden. Und die „Ubers dieser Welt“ erfreuen sich inzwischen an der Automobilindustrie als wesentlichem Teilhaber. Digitalisierung wird sicherstellen, dass Patienten ihre eigene Erkrankung besser managen können. Nicht nur deswegen verdient das deutsche Gesundheitswesen einen deutlichen und baldigen Digitalisierungs- und damit Effizienzschub. Die Zahl der “Windows of Opportunity“ für die einschlägigen Industrien derzeit ist groß.
- Veröffentlicht in Digitalisierung, Patientenorientierung